Materielle Rechte entstehen unabhängig von den formellen Voraussetzungen ...: Zum einen ist klar, dass der Anspruch auf Vorsteuerabzug materiell-rechtlich unabhängig davon entsteht, ob der Steuerpflichtige von seinem Lieferanten eine Rechnung erhält oder nicht.[17]

... können aber nicht ausgeübt werden: Zum anderen sagt der EuGH aber, der Steuerpflichtige könne diesen Anspruch nicht ausüben, wenn er keine Rechnung besitze.[18]

Materieller Anspruch ist wegen formeller Voraussetzungen sinnlos ...: Der Steuerpflichtige hätte also ohne (ausreichende) Rechnung einen Anspruch, den er aber nicht geltend machen kann. Hierfür kann sich natürlich kein Steuerpflichtiger etwas kaufen. De facto bekäme er nämlich seine Vorsteuern nicht zurück, egal ob es an materiell-rechtlichen oder formellen Erfordernissen fehlen würde.[19]

... was eigentlich gerade vermieden werden soll: Es wird daher nicht abschließend klar, wie das Erfordernis des Besitzes einer Rechnung vor dem Hintergrund zu sehen ist, dass formelle Anforderungen – wenn sie zum Nachweis des Bestehens materieller Rechte nicht mehr erforderlich sind – eigentlich nicht dazu führen dürfen, dass sie die Ausübung des beanspruchten Rechts verhindern.[20] So sagte der EuGH, wie unter II.1. erwähnt, auch im vorliegenden Urteil vom 21.10.2021, dass die Verwaltung, wenn sie über die erforderlichen Angaben verfüge, keine zusätzlichen Voraussetzungen festlegen dürfe, die die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug oder auf Mehrwertsteuererstattung vereiteln könnten.[21]

Frage des Sinns und Zwecks: Diese Aussage macht Sinn. Es stellt sich nämlich tatsächlich die Frage, welchen Zweck es hat, die Erfüllung von bislang fehlenden formellen Anforderungen (die dem Nachweis dienen, dass die materiell-rechtlichen Voraussetzungen vorliegen) zu fordern, wenn das Vorliegen der materiell-rechtlichen Voraussetzungen ohnehin außer Streit steht. Dass wirklich schwerwiegende Beeinträchtigungen des Mehrwertsteuersystems zu befürchten sind, wenn die Erfüllung aller materiell-rechtlichen Voraussetzungen des Vorsteuerabzugs feststeht, aber auf der Rechnung eine Steuernummer fehlt, will nur schwer einleuchten.[22] Und wenn feststeht, wer Lieferant bzw. Abnehmer war und was zu welchem Preis geliefert wurde, ist auch nicht selbsterklärend, warum die Angaben zur Identität der Parteien bzw. zu Art und Preis des Liefergegenstandes noch einmal auf einem Dokument bestätigt werden müssen.[23]

Kein Nachweis der materiellen Voraussetzungen durch Rechnungen: Nota bene müssen auch die materiellen Voraussetzungen des Vorsteuerabzugs[24] durch andere Mittel nachgewiesen werden. Mit Rechnungen kann z.B. insbesondere die Verwendung der Leistung für die besteuerten Umsätze des Unternehmers nicht bewiesen werden.

Beschränkte Beweiskraft von Rechnungen: Aus den Rechnungen ergibt sich auch nicht, ob die Angaben, die sie enthalten, tatsächlich zutreffen. Richtigerweise wird daher auch darauf hingewiesen, dass eine Rechnung lediglich die Inrechnungstellung der Steuer beweise. Die Rechnung sei daher auch kein Beweismittel dafür, dass der Umsatz, auf den sich der Antrag auf Vorsteuerabzug beziehe, tatsächlich stattgefunden habe.[25]

Rechnungen als Verbindung zwischen Steuerzahlung und Vorsteuerabzug: Auch die Auffassung, eine Rechnung gebe der Finanzverwaltung zumindest die Möglichkeit, sich für den über den Vorsteuerabzug auszukehrenden Betrag beim Aussteller der Rechnung Deckung zu verschaffen, indem sie bei ihm die Entrichtung der korrespondierenden Steuer überprüfe,[26] dürfte nicht weiterhelfen, da Betriebsprüfungen bei den Beteiligten (wenn überhaupt) im Regelfall erst Jahre nach Ausführung der jeweiligen Transaktionen stattfinden. Ein Abgleich, durch den sich die Finanzverwaltung "Deckung verschaffen" kann, könnte theoretisch nur dann helfen, das Steueraufkommen zu sichern, wenn er sofort, transaktionsbezogen und zeitgleich bei beiden Parteien stattfindet, was wiederum die Existenz entsprechender elektronischer Systeme voraussetzt.[27] Und selbst wenn diese vorhanden wären, verbliebe die Frage, ob dem Leistungsempfänger der Vorsteuerabzug versagt werden dürfte, wenn die Steuer vom Leistenden nicht abgeführt worden ist. Die Entrichtung der Steuer ist für den Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers nämlich im Regelfall ohne Bedeutung.[28] Der Vorsteuerabzug muss also auch dann gewährt werden, wenn der Leistende die Steuer nicht abgeführt hat.[29]

[17] Vgl. z.B. EuGH v. 19.10.2017 – C-101/16 – SC Paper Consult SRL, UR 2018, 213 Rz. 41, m.w.N.
[18] Diese Einzelheiten der Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug stehen den formellen Anforderungen gleich; vgl. EuGH v. 19.10.2017 – C-101/16 – SC Paper Consult SRL, UR 2018, 213 Rz. 40.
[19] Wäre diese "Ausübungsvoraussetzung" des Besitzes einer Rechnung tatsächlich unverzichtbarer Bestandteil des Vorsteuerabzugs, müsste man sie wohl doch als materielle Voraussetzung qualifizieren, so wie dies z.B. seit der Neufassung des Art. 138 Abs. 1 MwStSystRL zum 1.1.2020 mit Blick auf die USt-IdNr...

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