Entscheidungsstichwort (Thema)

Künstliche Befruchtung – intrazytoplasmatische Spermainjektion – ICSI – Oligio-Asteno-Teratozoospermie Grad III – Richtlinien – Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen – Rechtsetzungsbefugnis – Rechtsverordnung – Satzung – Normsetzungsvertrag – Rechtsquelle sui generis – antizipiertes Sachverständigengutachten – fachkundiges Gremium – eugenische Entscheidung – Rationierung von Kassenleitungen

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen sind weder Rechtsverordnungen, noch Satzungen, Normsetzungsverträge oder Rechtsquellen sui generis. Sie haben keine normative Wirkung für die Versicherten (Abweichung von BSG, Urteil vom 20. März 1996 – 6 RKa 62/94 – in SozR 3-2500 § 92 Nr. 6 sowie Urteile vom 16. September 1997 – 1 RK 28/95 – und – 1 RK 32/95 – in SozR 3-2500 § 135 Nr. 4 und § 92 Nr. 7).

2. Die Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen sind Empfehlungen eines fachkundigen Gremiums. Sie haben über das Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG lediglich mittelbare Wirkung für die Versicherten.

3. Nr. 10.5 der Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über ärztliche Maßnahmen zur künstlichen Befruchtung vom 14.8.1990 (BABl. 1990 Heft 12 S. 21), die die intrazytoplasmatische Spermainjektion (ICSI) aus der gesetzlichen Krankenversicherung ausschließt, ist nichtig. Der Ausschluss der intrazytoplasmatischen Spermainjektion (ICSI) aus der gesetzlichen Krankenversicherung gehört als eugenische Entscheidung und Rationierungsmaßnahme zu den wesentlichen Entscheidungen der gesetzlichen Krankenversicherung und ist gemäß der Wesentlichkeitstheorie dem Gesetzgeber vorbehalten.

 

Normenkette

SGB V §§ 27a, 91 Abs. 2, § 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 10, § 135 Abs. 1; Nr. 10.5 Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über ärztliche Maßnahmen zur künstlichen Befruchtung vom 14.8.1990 (BABl. 1990 Heft 12 S. 21)

 

Beteiligte

P. T. F. H

Rechtsanwalt Dr. M… und Partner, P., D

H. Krankenkasse für B. und H

W. Z. H

B. D. vertreten durch das B. G. P. B

 

Verfahrensgang

SG Hannover (Entscheidung vom 22.04.1998; Aktenzeichen S 11 KR 166/96)

 

Tenor

Das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 22. April 1998 und der Bescheid der Beklagten vom 10. April 1996 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. September 1996 werden aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die Kosten der im August 1996 durchgeführten intracytoplasmatischen Spermainjektion (ICSI) in Höhe von 2.274,– DM zu erstatten.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Der Rechtsstreit betrifft die Kosten der intracytoplasmatischen Spermainjektion (ICSI) in Höhe von 2.274,– DM, die im August 1996 durchgeführt wurde.

Die ICSI ist ein Verfahren der künstlichen Befruchtung, bei der ein einzelnes Spermium mittels einer Injektionsnadel in die Eizelle injiziert wird. In Fällen schwerer männlicher Zeugungsunfähigkeit ist die ICSI die einzige Möglichkeit für ein Paar, ein gemeinsames Kind zu bekommen.

Die 1963 geborene Klägerin hat aus einer früheren Beziehung einen im Jahre 1984 geborenen Sohn. Sie ist jetzt mit A… T… verheiratet und war im Jahre 1996 über ihn bei der Beklagten familienversichert. Seit 1990 hatte das Ehepaar den Wunsch nach einem gemeinsamen Kind. Wegen der beim Ehemann bestehenden Oligo-Astheno-Teratozoospermie Grad III (Einschränkung der Zahl, der Beweglichkeit und des Aussehens der Spermien) blieb dieser Wunsch unerfüllt. Deshalb entschlossen sich die Klägerin und ihr Ehemann zur Durchführung der ICSI. Die erste ICSI erfolgte im August 1996. Nach der fünften ICSI-Behandlung im November 1998 wurde die Klägerin am 20. August 1999 von einem gesunden Kind entbunden.

Am 15. Januar 1996 beantragte die Klägerin durch die Gynäkologen Dres. W…/M…-A… die Übernahme der Kosten für eine ICSI-Behandlung. Zuvor hatte sie sich zusammen mit ihrem Ehemann nach andrologischer Vordiagnostik durch die Frauenärztin Dr. O… (Vertragsärztin) über die medizinischen, psychischen und sozialen Aspekte der künstlichen Befruchtung beraten lassen (Bescheinigung Dr. O… vom 10. November 1995). Dr. O… überwies die Ehegatten am 20. Oktober 1995 zur ICSI-Behandlung an die Ärzte für Frauenheilkunde und Geburtshilfe Dres. W…/M… – A… Beide Ärzte sind ebenfalls Vertragsärzte und besitzen die behördliche Genehmigung zur Herbeiführung von Schwangerschaften nach § 121 a Fünftes Sozialgesetzbuch (SGB V).

Die Beklagte holte ein Gutachten nach Aktenlage von dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Niedersachsen (MDKN), Dr. P… vom 30. Januar 1996 ein, das einer Kostenübernahme im Hinblick auf gewisse Unwägbarkeiten im Hinblick auf die Missbildungsrate und die möglichen genetischen Auswirkungen” nicht zustimmte. Die Beklagte zog daraufhin eine Stellungnahme ihres beratenden Arztes für Arbeitsmedizin Dr. zum Winkel, Hamburg, vom 18. März 1996 bei und lehnte den Antrag mit Bescheid vom 10. April...

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