Rz. 55

[Autor/Stand] Im Rahmen der Ermessensentscheidung sind alle Umstände, die im konkreten Fall für und gegen eine Aussetzung des Steuerstrafverfahrens sprechen, gegeneinander abzuwägen. Dabei ist bei der Ausübung des Ermessens auf die Funktion des § 396 AO (s. Rdnr. 13 ff.) und auf die allgemein für das Prozessrecht geltenden Grundsätze zurückzugreifen. Ermessen bedeutet sachverhalts- und gegenwartsnahe Rechtskonkretisierung materiellen Rechts im Einzelfall. Dadurch ist eine am Einzelfall orientierte Rechtsbildung möglich. Dies bedeutet jedoch nicht die Freistellung vom Gesetzeswillen, sondern dessen Konkretisierung[2]. Die Entscheidung darüber, ob das Verfahren auszusetzen ist, trifft das Gericht in Ansehung verfassungsrechtlicher Grundsätze (Willkürverbot, Rechtsstaatlichkeit) nach pflichtgemäßem Ermessen auch von Amts wegen[3]. Die Entscheidung muss sich dabei rational nachvollziehbar von den allgemeinen Erfordernissen des Rechtsstaates leiten lassen. Allgemeine verfassungsrechtliche Grundsätze wirken kraft Vorrangs der Verfassung unmittelbar auf die Ermessensentscheidung ein.

Dazu zählen die Prinzipien des geringstmöglichen Eingriffs und der Verhältnismäßigkeit sowie das Beschleunigungsgebot. Zwischen diesen teils kollidierenden Interessen muss eine Abwägung erfolgen (s. Rdnr. 20). Bei der Prüfung ist auch zu berücksichtigen, dass die Aussetzung jederzeit widerrufen werden kann[4].

a) Vermeidung sich widersprechender Entscheidungen

 

Rz. 56

[Autor/Stand] In die vorzunehmende Abwägung ist der Sinn und Zweck des § 396 AO einzustellen, der grds. für eine Aussetzung des Steuerstrafverfahrens spricht. So besteht der Zweck der Norm nach der heute hM im Wesentlichen in der Vermeidung sich widersprechender Entscheidungen im Steuerstrafverfahren und im Besteuerungsverfahren (s. Rdnr. 13 ff.). Insoweit liegt die Aussetzung auch im öffentlichen Interesse, da nicht nur das Vertrauen des Betroffenen, sondern auch das der Öffentlichkeit in die Rechtspflege erschüttert wird[6], wenn im Strafverfahren eine Verurteilung erfolgt, und sodann im Besteuerungsverfahren festgestellt wird, dass nach der Sachlage ein Steueranspruch nicht bestand oder eine Steuerverkürzung nicht eingetreten ist, gleichgültig, ob mit dem Rechtsmittel gegen das Strafurteil noch eine Korrektur erfolgen kann oder ob nach Eintritt der Rechtskraft dieses Urteil sogar diese Möglichkeit verschlossen ist. Mit Recht weist Blumers[7] auch darauf hin, dass eine spätere abweichende steuerrechtliche Entscheidung dem Strafurteil sowohl die generalpräventive als auch die spezialpräventive Wirkung nimmt.

 

Rz. 57

[Autor/Stand] Insoweit wird die Auffassung vertreten, dass bei substanziell steuerlichen Fragen von grundsätzlicher Bedeutung der Finanzverwaltung und der Finanzgerichtsbarkeit ein Interpretationsvorrang zukomme, zu dessen Wahrung das Strafverfahren bis zur endgültigen Klärung auszusetzen sei[9]. Noch weitergehend befürwortet Kirchhof[10] eine strikte Bindung des Steuerstrafrechts an das Besteuerungsverfahren. Danach soll ein (auch unrichtiger) bestandskräftiger Steuerbescheid für die strafrechtliche Beurteilung der Steuerverkürzung verbindlich sein.

Dieser Ansicht kann nicht gefolgt werden[11]. Wie bereits die Vorschrift des § 393 AO zeigt, stehen Steuer- und Strafverfahren selbständig nebeneinander, ohne dass einem von ihnen der Vorrang eingeräumt wäre. Die Annahme einer Tatbestandswirkung des Steuerbescheides würde zu unhaltbaren Ergebnissen bei unrichtigen Steuerbescheiden, bei zu niedrigen Steueranmeldungen (vgl. § 164 AO), bei Schätzungen (§ 162 AO) oder in Versuchsfällen führen[12].

Auch bei Anerkennung des Grundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit sollten die Strafgerichte jedoch insoweit möglichst Zurückhaltung üben und um so mehr in rein steuerrechtlichen Fragen wegen der größeren Sachkompetenz den FG den Vorrang einräumen, je schwieriger die steuerrechtliche Beurteilung ist (s. auch Rdnr. 17 ff.)[13].

b) Beschleunigungsgrundsatz

 

Rz. 58

[Autor/Stand] Das sich aus dem in Art. 6 Abs. 1 MRK garantierten Beschleunigungsgebot ergebende öffentliche Interesse, das Verfahren so zügig wie möglich durchzuführen, wird im Regelfall gegen eine Aussetzung des Verfahrens sprechen[15]. Dies ist insb. dann der Fall, wenn mit zunehmender zeitlicher Distanz zwischen der Tat und der abschließenden Entscheidung die Qualität der Beweismittel abnehmen kann, etwa weil die Erinnerung eines Zeugen verblasst. Zudem kann die durch eine Aussetzung bedingte Verfahrensverzögerung zu einer Reduzierung der zu vollstreckenden Strafe führen (s. Rdnr. 18). Vor diesem Hintergrund ist neben dem Beschleunigungsgrundsatz auch das ebenfalls verfassungsrechtlich verankerte Ziel der effektiven Strafverfolgung in die Abwägung mit einzubeziehen. Aus diesem Grund wird in Haftsachen eine Aussetzung des Strafverfahrens mit der zwangsläufigen Folge der Aufhebung des Haftbefehls regelmäßig nicht in Betracht kommen[16].

Eine abweichende Beurteilung kann jedoch geboten sein, wenn das Besteuerungsverf...

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