Rz. 27

[Autor/Stand] Neben den Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit (s. Rz. 24) sowie Sinn und Zweck der Regelung (s. Rz. 6 ff.), sind auch gegen den Inhalt der Norm rechtssystematische Bedenken angezeigt.

§ 376 Abs. 1 AO stellt einen nicht begründeten Systemumbruch dar. Der Systemumbruch[2] liegt in der erstmaligen Anknüpfung der Verjährungsdauer an Regelbeispielen statt an Tatbestandsmerkmalen. Dies bewirkt – jedenfalls in der Auslegung des BGH – eine Entkopplung von Verjährungsdauer und Unrechtsgehalt der Tat; einfache Steuerhinterziehungen verjähren entweder in fünf Jahren (kein Regelbeispiel) oder in 15 Jahren (Regelbeispiel ohne besondere Schwere), besonders schwere Steuerhinterziehungen verjähren in 15 Jahren (benannte Fälle) oder in fünf Jahren (unbenannte Fälle). Diese Differenzierung erscheint verfassungsrechtlich (Art. 3 GG) zweifelhaft. Die Verjährung für zwei vom Gesetzgeber als vom Unrechtsgehalt gleichwertig erachtete Taten unterschiedlich zu regeln, erscheint vor dem Hintergrund, dass die Länge der Verjährungsfristen den typischen Unrechtsgehalt der Tat wiederspiegelt, wertungswidersprüchlich. Ein Systembruch bedingt aber im Regelfall eine Ungleichbehandlung[3]; die Regelung führt bei unrechtsgleichen Taten zu einer Verjährungsbandbreite von fünf bis 37,5 bzw. 42,5 Jahren!

Daneben gibt es – wenngleich weniger gewichtig – weitere, allerdings als solches nicht zur Verfassungswidrigkeit führende Kritikpunkte: Es ist rechtspolitisch abzulehnen, dass gegenüber Nicht-Steuerdelikten mit gleichem Unrechtsgehalt eine schärfere Regelung getroffen wurde. So unterliegen bspw. Untreue und Betrug einer Verjährung von fünf Jahren. Nichts anderes gilt wegen § 78 Abs. 4 StGB für die besonders schweren Fälle der Untreue und des Betrugs. Gerade wenn man – wie der BGH[4] – bei Betrug und Steuerhinterziehung den gleichen Schuldvorwurf ausmacht, kann damit eine längere Verjährung für die Steuerhinterziehung nicht gerechtfertigt werden. Wenn Handlungen einen identischen Unrechtsgehalt haben, ist rechtlich kein Grund ersichtlich, die eine Handlung länger zu verfolgen als die andere.

Freilich hat der Gesetzgeber einen Gestaltungsspielraum, aber auch dieser sollte sich an nachvollziehbaren Kriterien orientieren und ist nicht schrankenlos. Zutreffend weist die BRAK[5] darauf hin, dass

"nicht ernstlich vertreten werden [könne], dass der [durch Verjährung erfolgende] Aufschub des Rechtsfriedens aus fiskalischen Interessen über denjenigen bei einem Tötungsdelikt hinausgehen [müsse]: Die besonders schwere Steuerhinterziehung verjährt [...] später als ein Totschlag [!]"

 

Rz. 28– 29

[Autor/Stand] Einstweilen frei.

[Autor/Stand] Autor: Heerspink, Stand: 01.04.2021
[2] Samson/Brüning, wistra 2010, 1 (4).
[3] Danneker, NZWiSt 2014, 6 (11); BVerfG v. 16.12.1958 – 1 BvL 3/57, 1 BvL 4/57, 1 BvL 8/58, BVerfGE 9, 20 (28); BVerfG v. 7.11.1972 – 1 BvR 338/68, BVerfGE 34, 103 (115); BVerfG v. 7.5.1974 – 2 BvR 276/71, BVerfGE 37, 167 (189); BVerfG v. 21.6.1977 – 2 BvR 308/77, BVerfGE 45, 363 (375); BVerfG v. 15.5.1984 – 1 BvR 464/81, 1 BvR 427/82, 1 BvR 440/82, 1 BvR 605/81, BVerfGE 67, 70 (84 f.); BVerfG v. 6.11.1984 – 2 BvL 16/83, BVerfGE 68, 237 (253) = BRAK 1985, 113; BVerfG v. 23.1.1990 – 1 BvL 44/86, 1 BvL 48/87, BVerfGE 81, 156 = ZIP 1990, 250 (207); BVerfG v. 10.10.2001 – 1 BvL 17/00, BVerfGE 104, 75 (87); BVerfG v. 14.10.2008 – 1 BvF 4/05, BVerfGE 122, 1 (36); dazu Payandeh, AöR 136 (2011), 578 (589) m.w.N.
[5] BRAK, Stellungnahme 28/2020, S. 5.
[Autor/Stand] Autor: Heerspink, Stand: 01.04.2021

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