2.1 Verfassungsrechtliche Zulässigkeit

 

Rz. 3

Verfassungsrechtlich geboten ist jeweils das Vorliegen eines sachlichen Grundes für den Stichtag, von dem an die jeweilige Berufskrankheit rückwirkend anerkannt werden kann. Dies gebietet der Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG. Eine unbeschränkte Rückwirkung wirft Ermittlungs- und Beweisprobleme auf, da auf weit zurückliegende Sachverhalte abzustellen wäre. Weiter spricht der Gesichtspunkt der sachgerechten Zurechnung von Risiken gegen eine unbeschränkte Rückwirkung. Denn die gesetzliche Unfallversicherung wurde unter der Herrschaft der RVO und wird nach dem geltenden SGB VII von dem Listenprinzip geprägt. Danach erstreckt sich der Versicherungsschutz grundsätzlich nicht auf jede beruflich verursachte Krankheit, sondern nur auf solche, die als Berufskrankheiten in die BKV (früher BKVO) listenmäßig aufgenommen sind. Solange aber das "Ob" und "Wie" der beruflichen Verursachung bestimmter Erkrankungen nicht bekannt ist, sind regelmäßig weder den Unternehmern (gezielte) Präventionsmaßnahmen möglich noch kann der Versicherte, ohne dass neue berufskrankheitsreife medizinische Erkenntnisse vorliegen, damit rechnen, insoweit versichert zu sein. Es bedarf besonderer Gründe, um die Unternehmer, die die gesetzliche Unfallversicherung allein finanzieren, unbeschränkt mit Entschädigungskosten für Krankheiten der Versicherten zu belasten, die aufgrund berufsbedingter schädigender Einwirkungen lange vor Inkrafttreten der BKV aufgetreten sind (BSG, Urteil v. 30.9.1999, B 8 KN 5/98 U R; Urteil v. 13.6.2006, B 8 KN 3/05 R; BVerfG, Beschluss v. 30.3.2007, 1 BvR 3144/06).

 

Rz. 4

Allerdings muss der Rückwirkungszeitraum ausreichend weit in die Vergangenheit reichen. Dem wird grundsätzlich dadurch Rechnung getragen, dass auf den Zeitpunkt abgestellt wird, an dem die letzte Änderungsverordnung erlassen worden ist, mit der neue Berufskrankheiten in die Verordnung aufgenommen worden sind. Diese Ausgestaltung haben das BVerfG (BVerfG, Beschluss v. 30.3.2007, 1 BvR 3144/06) und das BSG (Urteil v. 27.6.2006, B 2 U 5/05 R) bestätigt.

 

Rz. 5

Im Rahmen des pflichtgemäßen Beurteilungsermessens hat der Verordnungsgeber seine Entscheidung zu überprüfen und soweit erforderlich zu korrigieren. Nur so kann er den Einschätzungs- und Prognosespielraum sachgerecht ausschöpfen. Ausgehend vom Ergebnis der Überprüfung ist der Rückwirkungszeitraum zu bemessen.

2.2 Abgrenzung gegenüber der Anerkennung nach § 9 Abs. 2 SGB VII

 

Rz. 6

Liegt der Versicherungsfall vor dem Rückwirkungszeitpunkt nach § 6, so kommt allein eine Anerkennung wie eine Berufskrankheit nach § 9 Abs. 2 in Betracht. Ist diese vor dem Inkrafttreten der in Aussicht genommenen Änderung der BKV erfolgt, so erhält der Versicherte dadurch eine Rechtsposition, die aus rechtsstaatlichen Gründen durch die in der Verordnung getroffene Regelung über den zeitlichen Anwendungsbereich i. d. R. nicht mehr in Frage gestellt werden kann (BSG, Urteil v. 27.6.2006, B 2 U 5/05 R, SGb 2007 S. 354 mit Anm. von Rüfner; BVerfG, Beschluss v. 23.6.2005, 1 BvR 235/00, SGb 2006 S. 94 mit Anm. von Becker). Die Anerkennung bleibt auch nach Beginn des Rückwirkungszeitraumes und nach Einführung der Listen-Berufskrankheit bestehen. Dies folgt bereits aus dem Gesichtspunkt des Bestandsschutzes bei begünstigenden Verwaltungsakten.

 

Rz. 7

Bei Vorliegen der Entscheidungsreife eines Antrags auf eine Entschädigung nach § 9 Abs. 2 SGB VII ist es mithin unzulässig, einen Entschädigungsantrag bei Entscheidungsreife mit dem Hinweis auf eine in Aussicht stehende Änderung der Berufskrankheiten-Verordnung abzulehnen und die Entscheidung zulasten des Versicherten hinauszuzögern. Vielmehr ist nach den Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 SGB VII über den Antrag zu entscheiden.

 

Rz. 8

Bisher nicht höchstrichterlich entschieden ist die Frage, ob ein nach Beginn des Rückwirkungszeitraumes gestellter Antrag auf Anerkennung eines vor Beginn dieses Zeitraumes liegenden Versicherungsfalles nach § 9 Abs. 2 wie eine Berufskrankheit (vgl. Mehrtens/Brandenburg, § 6 Anm. 2.4) oder nach Abs. 1 als Berufskrankheit zu bescheiden ist.

2.3 Rückwirkungsregelungen

2.3.1 Übergangsleistungen

 

Rz. 9

Auf Übergangsleistungen nach § 3 Abs. 2 BKV finden die Rückwirkungsregelungen keine Anwendung. Dies folgt schon daraus, dass sie tatbestandlich nicht das Bestehen einer Berufskrankheit voraussetzen und anders als die von § 6 erfassten Leistungen präventiven Charakter haben (BSG, Urteil v. 7.9.2004, B 2 U 1/03 R, BSGE 93 S. 164 = USK 2004-106 = SGb 2005 S. 460, mit Anm. von Koch).

2.3.2 Rückwirkungsregelungen in § 9 Abs. 2a SGB VII

 

Rz. 9a

Die Rückwirkungsregelungen des § 9 Abs. 2a SGB VII gelten (nur) für die ab 1.1.2021 eingeführten "künftigen" Berufskrankheiten. Für die rückwirkende Anerkennung von Berufskrankheiten, die vor dem 1.1.2021 in der Anlage 1 zur BKV bezeichnet worden sind, gilt § 6 in der am 1.1.2021 geltenden Fassung (vgl. die Komm. zu § 218b SGB VII und § 9 SGB VII Rz. 77).

2.3.3 Rückwirkende Anerkennung der Berufskrankheiten nach Abs. 1

 

Rz. 9b

Die Berufskrankheiten nach Nr. 1320 (Chronisch-myeloische oder chronisch-lymphatische Leukämie durch 1,3-Butadien bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Dosis von mindestens 180 Butadien-Jahren (ppm x Jahre), 1321 (Schleimhautve...

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