Leitsatz

Es ist ernstlich zweifelhaft, welche Auswirkungen es für die Haftung (§ 71 AO) des Leiters der Wertpapierabteilung eines Kreditinstituts hat, wenn auf seine Initiative und mit seiner Billigung Wertpapiere anonym ins Ausland verlagert worden sind, jedoch die mutmaßlichen Haupttäter einer Steuerhinterziehung nicht ermittelt werden können und folglich nicht individuell festgestellt werden kann, ob eine Steuerhinterziehung überhaupt begangen und welche Steuer dadurch konkret hinterzogen worden ist.

 

Normenkette

§ 71, § 191, § 370 AO, § 69 FGO

 

Sachverhalt

Bei einem Kreditinstitut waren tausendfach Wertpapiere von Kunden entgegengenommen und zu ausländischen Gesellschaften verbracht worden, ohne die Identität der Kunden zu dokumentieren. Stattdessen wurden den einzelnen Geschäftsvorfällen Nummern zugeordnet. Rund 75 % der Fälle konnten nachträglich einzelnen Kunden zugeordnet werden, von denen nahezu keiner die Erträge aus den transferierten Wertpapieren in seiner ESt-Erklärung angegeben hatte. Übrig blieben rund 600 Kunden, von denen nur der Gesamtbetrag des ins Ausland verbrachten Gelds bekannt war. Das FA schätzte den Betrag der entgangenen Steuern auf der Grundlage einer Verzinsung von 8 %, eines Steuersatzes von 35 % und eines Sicherheitsabschlags von 25 %.

Über die nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage vor dem FG ist noch nicht entschieden. Das FG hat den bei ihm gestellten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung abgelehnt und dagegen die Beschwerde zugelassen (FG Düsseldorf, Beschluss vom 10.02.2009, 8 V 2459/08 A[H], Haufe-Index 2168767, EFG 2009, 716).

 

Entscheidung

Der BFH hob den ablehnenden Beschluss des FG auf und setzte die Vollziehung des angefochtenen Haftungsbescheids bis einen Monat nach Abschluss des Klageverfahrens aus. Die Rechtslage sei zweifelhaft und bei summarischer Prüfung jedenfalls nicht eindeutig i.S.d. FA zu beantworten. Die strittigen Fragen müssten eingehend geprüft werden.

 

Hinweis

Wer Beihilfe zur Steuerhinterziehung leistet, haftet (neben dem Täter) für die verkürzten Steuern (§ 71 AO). Bisher stand in allen dazu entschiedenen Fallkonstellationen der Haupttäter der Steuerhinterziehung fest, sodass nur über die Frage der Beihilfe oder anderweitige Rechtsfragen zu entscheiden war.

Bisher ungeklärt ist hingegen die Frage, ob eine Haftung nach § 71 AO wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung auch dann in Betracht kommt, wenn zwar mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Steuerhinterziehungen begangen worden sind, die einzelnen Taten und die Namen der Täter aber nicht individuell festzustellen sind.

Diese Frage stellt sich mit besonderer Schärfe, wenn Bankangestellte in großem Stil Gelder ihrer Kunden anonym ins Ausland transferieren, ein großer Teil dieser Fälle individuell aufgeklärt werden kann, ein kleinerer Teil der Fälle indes trotz Kooperation der Bank unaufklärbar bleibt. In einem solchen Fall hatte die Finanzverwaltung hier – soweit ersichtlich, erstmals – aus dem Tatsachenmaterial der in die Tausende gehenden aufgeklärten Fälle einen Wahrscheinlichkeitsschluss zur Beurteilung der nicht aufgeklärten Fälle abgeleitet. Weil erwiesen war, dass die allermeisten der aufgeklärten und namentlich zugeordneten Kapitaltransfers zur Steuerhinterziehung geführt hatten, sollte daraus anhand einer statistischen Wahrscheinlichkeitsaussage auch für die nicht aufklärbaren Fälle dem Grund und der Höhe nach auf das Vorliegen von Steuerhinterziehungen geschlossen und dafür der mitwirkende Bankangestellte in Haftung genommen werden.

Diese Vorgehensweise wirft neue, bisher ungeklärte und keineswegs einfach zu beantwortende methodische Fragen auf. Steuerhinterziehung durch Verschweigen von Einkünften ist individuelles willensgesteuertes menschliches Verhalten. Insoweit stellt sich die Frage, ob dazu überhaupt Aussagen anhand mathematisch-statistischer Methoden in rechtssicherer Weise getroffen werden können. Denn statistische Wahrscheinlichkeitsaussagen sind in erster Linie für mechanische, naturwissenschaftliche und technische Vorgänge geeignet.

Auch wenn man die Zulässigkeit eines Wahrscheinlichkeitsschlusses in dem hier beschriebenen Zusammenhang grundsätzlich für zulässig hält, ist ungeklärt, welche Anforderungen im Gerichtsverfahren an eine solche statistische Methode zu stellen sind und welche Einwendungen den betroffenen Steuerpflichtigen dagegen zur Verfügung stehen. Zugespitzt könnte man fragen: Darf man die Verwirklichung des Steuertatbestands (§ 38 AO) durch die – wenn auch sehr große – Wahrscheinlichkeit seiner Verwirklichung ersetzen?

Vor dem Hintergrund dieser ungeklärten methodischen Grundfragen liegen im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes die Voraussetzungen für eine Aussetzung der Vollziehung vor. In diesem Verfahren konnten die angesprochenen Fragen lediglich summarisch abgehandelt werden. Eine vertiefte grundsätzliche Prüfung müsste gegebenenfalls einem späteren Revisionsverfahren vorbehalten bleiben.

 

Link zur Entscheidung

BFH, Beschluss vom 16.07.2009 – VIII B 64/09

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