Rz. 83

Das "Gesetz zur Anpassung des Erbschaft- und Schenkungsteuergesetzes an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vom 4.11.2016" ist mit Wirkung zum 1.7.2016 in Kraft getreten, wurde aber erst im Bundesgesetzblatt vom 9.11.2016 verkündet.[1] Das neue Gesetz ist damit rückwirkend in Kraft getreten.

 

Rz. 84

Im Schrifttum wird kontrovers darüber diskutiert, ob eine solche (echte) Rückwirkung zulässig ist.[2]

 

Rz. 85

Richtigerweise ist eine solche Rückwirkung im stichtagsbezogenen ErbStG als unzulässig anzusehen.[3] Das BVerfG und die FinVerw haben immer wieder öffentlich betont, dass das bisherige Recht bis zu einer gesetzlichen Neuregelung fort gilt (und zwar auch über den 30.6.2016 hinaus). Das dadurch begründete Vertrauen der Stpfl. in den Fortbestand des früheren Rechts war und ist schutzwürdig. Ein sachlicher Grund für einen rückwirkenden Eingriff in diese Rechtsposition bestand nicht. Aufgrund der Weitergeltung des früheren Rechts waren auch keine Steuerausfälle zu befürchten.

 

Rz. 86

Die FinVerw hat zu der Problematik bislang nicht ausdrücklich Stellung genommen, geht aber von der Zulässigkeit der Rückwirkung aus. Die Neuregelungen sind auf alle Erwerbe anzuwenden, für die die Steuer nach dem 30.6.2016 entsteht.[4] Die Steuer wird nicht (mehr) vorläufig festgesetzt, da das Gesetz rückwirkend zum 1.7.2016 in Kraft getreten ist.[5]

 

Rz. 87

Die Rückwirkung ist nur deshalb notwendig geworden, weil der Gesetzgeber seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtung sonst nicht (rechtzeitig) nachgekommen wäre.[6] Das BVerfG hat mit Urteil vom 17.12.2014 das damals geltende ErbStG für verfassungswidrig erklärt und den Gesetzgeber aufgefordert, bis spätestens zum 30.6.2016 eine verfassungskonforme Neuregelung zu schaffen. Die Frist von über 1 1/2 Jahren war an sich großzügig bemessen. Gleichwohl ist es nicht gelungen, das neue Gesetz vor Fristende im Bundesgesetzblatt zu verkünden. Das Gesetzgebungsverfahren hat sich aufgrund von (politischen) Streitigkeiten immer wieder verzögert. Eine Einigung ist erst im Vermittlungsausschuss am 21./22.9.2016 erzielt worden. Der Deutsche Bundestag hat die endgültige Gesetzesfassung am 29.9.2016 beschlossen. Der Bundesrat hat am 14.10.2016 zugestimmt.

 

Rz. 88

Ein Wahlrecht hat der Gesetzgeber (anders in Art. 3 ErbStRG 2009) nicht in das Gesetz aufgenommen. Der Stpfl. kann somit (auch in der Übergangszeit vom 1.7.2016 bis zum 9.11.2016) nicht zwischen dem alten und neuen Recht wählen. Möglicherweise kann ein solches Wahlrecht im Wege der verfassungskonformen Auslegung geschaffen werden.[7] Denkbar wäre auch eine entsprechende Billigkeitsregelung der FinVerw.

 

Rz. 89

In einem 1. Gerichtsverfahren hat sich die Frage gestellt, ob für den Zeitraum vom 1.7.2016 bis zum 9.11.2016 eine generelle Steuerpause gilt. Der BFH[8] und das FG Köln[9] als Vorinstanz haben dies für einen Erbfall im August 2016 bei Privatvermögen jeweils verneint.

Zum gleichen Ergebnis kam auch das FG Berlin-Brandenburg[10] in einem Erbfall vom 25.10.2016. Die Fälle betrafen den Erwerb von Privatvermögen. Die Revision wurde zwischenzeitlich zurückgenommen.

Die Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Rückwirkung ist gleichwohl noch nicht abschließend geklärt[11] und wird möglicherweise auch nochmals das BVerfG beschäftigen.

[1] BGBl I 2016, 2464, BStBl I 2016, 1202.
[2] Grundlegend dazu Crezelius, ZEV 2016, 367; Crezelius, ZEV 2016, 541; Drüen, DStR 2016, 643; Seer, GmbHR 2015, 673; Seer/Michalowski, GmbHR 2017, 609.
[3] So auch Söffing M., in Wilms/Jochum, ErbStG, § 13a Rz. 17 ff.; Stalleiken, in v. Oertzen/Loose, ErbStG, § 13a Rz. 33.
[4] S. R E 13a.2 ErbStR 2019 und zuvor oberste Finanzbehörden der Länder, gleichlautende Erlasse v. 8.12.2016, BStBl I 2016, 1434 und gleichlautende Erlasse v. 21.6.2016, BStBl I 2016, 646, DStR 2016, 1816.
[5] Oberste Finanzbehörden der Länder, gleichlautende Erlasse v. 16.1.2017, BStBl I 2017, 24, DStR 2017, 159.
[6] BVerfG v. 17.12.2014, 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136, BStBl II 2015, 50, DStR 2015, 31.
[7] Dafür Crezelius, ZEV 2016, 541, 543.
[8] BFH v. 6.5.2021, II R 1/19, BStBl II 2022, 77, BFH/NV 2022, 73, DStR 2021, 2632 mit Anm. Kugelmüller-Pugh, DB 2021, 2809, NJW 2021, 3550, ErbStB 2021, 353 mit Anm. Marfels, DStRK 2022, 13 mit Anm. Schütz, FamRZ 2022, 137.
[9] FG Köln v. 8.11.2018, 7 K 3022/17, DB 2019, 461 mit Anm. Hennigfeld, EFG 2019, 455 mit Anm. Neu, ZEV 2019, 240, DStRE 2020, 86, DStRK 2019, 215 mit Anm. Herbst; zustimmend auch die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage im Deutschen Bundestag, s. BT-Drs. 19/10526 v. 29.5.2019.
[10] FG Berlin-Brandenburg v. 19.5.2021, 14 K 14009/19, BFH II R 18/21, ZEV 2021, 604, ErbStB 2021, 274 mit Anm. Günther, EFG 2021, 1491 und FG Berlin-Brandenburg v. 19.5.2021, 14 K 14008/19, rkr., BFH II R 17/21, ErbStB 2021, 274 mit Anm. Günther, EFG 2021, 1486 mit Anm. Neu, DStRE 2022, 534; krit. dazu Geck/Messner, ZEV 2021, 498.
[11] S. auch Milatz/Schrepp, DB 2022, 1736; zu einem Fall aus Hamburg, in dem es u. a. um die Hinzurec...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Steuer Office Excellence. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge