Entscheidungsstichwort (Thema)
Heilung der sachlichen Unzuständigkeit des sog. Inkasso-Service
Leitsatz (redaktionell)
Die sachliche Unzuständigkeit des sog. Inkasso-Service bei Ablehnung eines Erlassantrags wird nicht dadurch geheilt, dass die sachlich und örtlich zuständige Familienkasse die Einspruchsentscheidung erlässt.
Normenkette
AO §§ 126-127, 16; FVG § 5 Abs. 1 S. 1 Nr. 11; AO § 125
Nachgehend
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um den Erlass von Beträgen, die sich aus der Rückforderung von überzahltem Kindergeld ergeben.
Die Familienkasse Nordrhein-Westfalen A hob gegenüber der Klägerin mit Bescheid vom 13.11.2018 die Festsetzung des Kindergeldes für das Kind X für den Zeitraum Oktober 2016 bis Juni 2018 auf und forderte das überzahlte Kindergeld für diesen Zeitraum in Höhe von insgesamt 4.038,– EUR zurück.
Mit Schreiben vom 20.01.2021 beantragte die Klägerin, auf die Durchsetzung des Erstattungsanspruchs kraft verwaltungsinterner Billigkeitsregelung nach § 227 der Abgabenordnung (AO) zu verzichten. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 09.04.2021 ab. Den von der Klägerin eingelegten Einspruch vom 10.05.2021 wies die Familienkasse Nordrhein-Westfalen A mit Einspruchsentscheidung vom 12.07.2021 als unbegründet zurück.
Die Klägerin hat am 11.08.2021 Klage erhoben. Zur Begründung trägt sie vor: Die Einziehung sei sachlich unbillig, wenn ein Widerspruch zum Zweck der anspruchsbegründenden Regelung vorliege und darüber hinaus mit den allgemeinen Rechtsgrundsätzen nicht vereinbar sei. Letztendlich sei das gezahlte Kindergeld genau bei dem Adressaten angekommen, dem es zugestanden habe. Sie habe mit ihrem Kind im streitbefangenen Zeitraum in Polen gelebt. Ihr Ehemann sei in diesem Zeitraum in Deutschland erwerbstätig und steuerpflichtig gewesen. Er habe über einen kurzen Zeitraum auch Arbeitslosengeld I bezogen. Das Kindergeld sei auf das Konto ihres Ehemannes überwiesen worden. Dieser habe das Kindergeld an sie weitergeleitet. Wäre der Ehemann der formell Kindergeldberechtigte gewesen, so wäre das Geld auf das gleiche Konto ausgezahlt worden. Der Kindesvater sei auch kindergeldberechtigt gewesen. Darüber hinaus lägen auch persönliche Billigkeitsgründe vor. Es sei ihr nicht bewusst gewesen, dass sie nicht rechtmäßig gehandelt habe und sie habe sich keine Gedanken über eine etwaige Mitwirkungspflicht gemacht. Ihr sei der Unterschied zwischen einer Kindergeldberechtigung und der bloßen Stellung als Zahlungsempfängerin nicht bewusst gewesen. Es sei richtig, dass sich niemand auf mangelnde Sprachkenntnisse und mangelndes Verständnis zurückziehen dürfe, jedoch sei das Ergebnis – wie ausgeführt – das gleiche. Zwischenzeitlich habe der Kindesvater einen Kindergeldantrag gestellt, der aber noch nicht beschieden sei. Darüber hinaus beziehe sie ALG II-Leistungen, so dass Erlassbedürftigkeit vorliege, da sie aufgrund der geringen Mittel und des geringen Einkommens gar nicht in der Lage sei, den Betrag zu zahlen. Selbst eine Ratenzahlung würde für sie und ihren Ehemann einen erheblichen finanziellen Nachteil bedeuten.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Bescheid der Beklagten vom 09.04.2021 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 12.07.2021 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Rückforderungsbetrag gemäß § 227 AO zu erlassen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen,
hilfsweise, die Revision zuzulassen.
Sie verweist zur Begründung auf die Ausführungen in der Einspruchsentscheidung und erwidert auf den richterlichen Hinweis vom 21.02.2022: Eine auf einen Erlass gerichtete Verpflichtungsklage richte sich, wenn die sachlich unzuständige Familienkasse den Ausgangsbescheid gefertigt, aber die Familienkasse, die sachlich und örtlich zuständig sei, die Einspruchsentscheidung erlassen habe, zulässigerweise gegen die Familienkasse, die die Einspruchsentscheidung erlassen habe. Die Regelung des § 63 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) sei in diesem Fall analog anzuwenden. Rechtlich sei nie ein Zuständigkeitswechsel eingetreten, so dass § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO nicht unmittelbar anwendbar sei. Aber da die wirklich zuständige Behörde über den Einspruch entschieden habe, sei die Vorschrift entsprechend anzuwenden. Dabei könnten die Motive, die die Verwaltung zum Zuständigkeitswechsel bewogen hätten, keine Rolle spielen. Auch die zufällige Übertragung des Einspruchsverfahrens – hier aufgrund einer vermeintlichen Sonderzuständigkeit – auf die tatsächlich zuständige Behörde löse die analoge Anwendung des § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO aus. Durch die Entscheidung der sachlich und örtlich zuständigen Behörde sei eine Heilung gemäß § 126 Abs. 2 AO eingetreten.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze der Beteiligten sowie den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten und der Gerichtsakte Bezug genommen.
Die Beteiligten haben gemäß § 90 Abs. 2 FGO auf die Durchführung einer mündlichen Ve...