Entscheidungsstichwort (Thema)

Nachweis der „dauernden Berufsunfähigkeit” als Voraussetzung für einen Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG auch ohne Einhaltung des formalisierten Nachweisverlangens der Finanzverwaltung in R 16 Abs. 14 EStR möglich

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Das Tatbestandsmerkmal der „dauernden Berufsunfähigkeit” als Voraussetzung für den Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG bestimmt sich nach dem Sozialrecht und kann auch ohne Vorlage eines Bescheids der Deutschen Rentenversicherung erfüllt sein, in welchem ausdrücklich die dauernde Berufsunfähigkeit im Sinne von § 240 Abs. 2 Satz 1 SGB VI festgestellt wird.

2. Es wird nicht der Auffassung der Finanzverwaltung (R 16 Abs. 14 Satz 1 EStR und R 16 Abs. 14 Satz 2 EStR) gefolgt, wonach der Nachweis der dauernden Berufsunfähigkeit durch die Vorlage eines Bescheides des Rentenversicherungsträgers oder durch eine amtsärztliche Bescheinigung oder unter bestimmten Voraussetzungen durch die Leistungspflicht einer privaten Versicherungsgesellschaft erbracht werden kann und muss. Für ein derartiges formalisiertes Nachweisverlangen fehlt es an einer gesetzlichen Grundlage.

3. Maßgeblicher Anknüpfungspunkt zur Beantwortung der Frage, ob eine dauernde Berufsunfähigkeit vorliegt, ist zunächst die Bestimmung des bisherigen Berufes (sogenannter Hauptberuf). Als Beruf ist jede Tätigkeit einzustufen, welche auf Dauer zur Schaffung und Erhaltung der Lebensgrundlage dienen soll.

4. Die Voraussetzungen einer Berufsunfähigkeit im Sinne von § 240 Abs. 2 Satz 1 SGB VI liegen vor, wenn aus einem für die Deutsche Rentneversicherung erstellten ärztlichen Gutachten zur sozialmedizinischen Leistungsbeurteilung eindeutig hervorgeht, dass die letzte berufliche Tätigkeit (selbständige Friseurin) lediglich in einem täglichen Zeitraum von drei bis unter sechs Stunden ausgeübt werden kann und dass die begutachtenden Ärzte aus medizinischer Sicht von einer Arbeitsunfähigkeit der Friseurin ausgehen; insoweit ist es unerheblich, dass nach dem Gutachten eine künftige Besserung des Krankheitsbildes durch bestimmte operative Maßnahmen als möglich erachtet wird. Maßgeblich ist einzig, ob der Steuerpflichtige im Zeitpunkt der Betriebsveräußerung die (isolierten) Voraussetzungen des § 240 Abs. 1 Satz 1 SGB VI erfüllt hat.

 

Normenkette

EStG § 16 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 4; EStDV § 65 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a; SGB VI § 240 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1; EStR R 16 Abs. 14 Sätze 1-2

 

Nachgehend

BFH (Urteil vom 14.12.2022; Aktenzeichen X R 10/21)

 

Tenor

1. Soweit es den Solidaritätszuschlag betrifft, wird das Verfahren eingestellt.

2. Unter Änderung des Bescheides über Einkommensteuer für 2012 vom 03.04.2014, in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 04.11.2015, wird die Einkommensteuer ohne Berücksichtigung des Veräußerungsgewinns in Höhe von … EUR festgesetzt.

3. Die Kosten des Verfahrens tragen der Beklagte zu 96 % und die Kläger zu 4 %.

4. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren wird für notwendig erklärt.

5. Das Urteil ist für die Kläger wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung der Kläger gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger vorher Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.

6. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung des Freibetrages nach § 16 Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) für den Veranlagungszeitraum 2012 streitig.

Die Kläger sind verheiratet und werden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt.

Die Klägerin wurde am … geboren.

Im Oktober 2008 ließ sich die Klägerin im … wegen Beschwerden im Bereich des rechten Beins behandeln (ärztlicher Bericht vom …, Blatt 77 der Gerichtsakte Bd. I). Mit ärztlichem Bericht vom 11.02.2009 (Blatt 79 der Gerichtsakte Bd. I) berichtete die Klinik, die Klägerin sei zur stationären Behandlung in der Zeit vom 02. bis 11.02.2009 aufgenommen worden. Sie werde bei subjektiven Wohlbefinden in die häusliche Umgebung entlassen. Die in der Klinik begonnene physiotherapeutische Beübung solle fortgesetzt werden. Im Vordergrund sollten die Gangschule mit Harmonisierung des Gangbildes und eine isometrische Kräftigung der hüftstabilisierenden Muskulatur stehen. Eine Teilbelastung von 15kp sollte für insgesamt sechs Wochen eingehalten werden.

Das Landesamt für Gesundheit und Soziales Mecklenburg-Vorpommern erteilte am 20.12.2010 eine unbefristete Bescheinigung nach § 65 Abs. 1 Nummer 2 lit. a) der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung (EStDV). Danach sei die Klägerin ein behinderter Mensch im Sinne des § 33b EStG. Der Grad der Behinderung betrage 30 ab 01.02.2009. Er beruhe auf Behinderungen im Sinne des § 33b Abs. 2 Nummer 2 lit. a) und/oder b) EStG (Blatt 88 der Gerichtsakte Bd. I).

Im Streitjahr 2012 erzielte der Kläger Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Die Klägerin erzielte mit ihrem Friseursalon Einkünfte aus Gewerbebetrieb. Der Betrieb bestand aus einer Hauptniederlassung in … ...

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