Entscheidungsstichwort (Thema)

Aufhebung einer Kindergeldfestsetzung wegen Doppelzahlung

 

Leitsatz (redaktionell)

1. § 174 Abs. 2 Satz 1 AO gestattet keine generelle Bescheidkorrektur, sondern ermöglicht nur die Beseitigung des Fehlers, der sich aus der Kollision bzw. dem Widerstreit der unzulässigen Mehrfachberücksichtigung des Sachverhalts ergibt.

2. Die Voraussetzungen des § 174 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 155 Abs. 5 AO liegen vor, wenn die Familienkasse deshalb für ein und dasselbe Kind versehentlich mehrfach Kindergeld bewilligt und ausgezahlt hat, weil die Antragstellerin einen zweiten Kindergeldantrag (unter einer anderen Kindergeldnummer) gestellt hat, während bereits eine Kindergeldbewilligung vorgenommen worden war.

3. Unter den Voraussetzungen des § 128 Abs. 1 AO sind auch die Finanzgerichte zur Umdeutung eines fehlerhaften Verwaltungsakts befugt.

4. Es ist ohne Bedeutung, wenn die Finanzbehörde ihren Bescheid als Rückforderungsbescheid und nicht als Abrechnungsbescheid bezeichnet hat.

 

Normenkette

AO §§ 128, 155 Abs. 5, § 174 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1, § 218 Abs. 2 S. 2; EStG § 31 S. 3, § 66 Abs. 1, § 70 Abs. 1 S. 1; AO § 37 Abs. 2

 

Nachgehend

BFH (Aktenzeichen III B 54/22)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten, ob die beklagte Familienkasse bei einer doppelten Bewilligung von Kindergeld zugunsten der Klägerin für ihre Tochter einen der Bewilligungsbescheide und wenn ja, welchen aufheben (3 K 1052/20) und ob sie das doppelte gezahlte Kindergeld von der Klägerin zurückverlangen (3 K 1144/19) darf.

Die Klägerin ist türkische Staatsangehörige mit Niederlassungserlaubnis in der Bundesrepublik Deutschland. Seit 2012 bezog sie für ihren Sohn A von der beklagten Familienkasse Kindergeld unter der Kindergeldnummer …8 (künftig: …8). Nachdem sie am ….2015 ihre Tochter A1 zur Welt gebracht hatte, stellte sie auch für sie auf dem amtlichen Vordruck der Familienkasse einen Antrag auf Kindergeld und fügte die für das Kindergeld ausgestellte Geburtsurkunde ihrer Tochter bei. Das Feld „Kindergeldnummer” im Antragsvordruck füllte die Klägerin nicht aus. Ihren Sohn erwähnte sie in dem Antrag nicht, insbesondere nicht bei der Frage: „Für folgende Kinder beziehe ich bereits Kindergeld”. Der Antragsvordruck enthält am Schluss die Versicherung, „dass ich alle Angaben (auch in den Anlagen) vollständig und wahrheitsgetreu gemacht habe.” Er wurde von der Klägerin unterschrieben.

Der Antrag ging am 11.8.2015 bei der Familienkasse ein. Diese erkannte nicht, dass für die Klägerin bereits eine Kindergeldnummer existierte. Sie ordnete dem Antrag die neue Kindergeldnummer …4 (künftig: …4) zu und bat die Klägerin um Übersendung einer Kopie ihres Aufenthaltstitels, was die Klägerin am 25.9.2015 tat.

Am 8.10.2015 erkundigte sich die Klägerin telefonisch im Servicecenter der Bundesagentur nach dem Bearbeitungsstand ihres Kindergeldantrages für ihre Tochter und gab dabei die Kindergeldnummer …8 an. Da unter dieser kein unbearbeiteter Antrag vorlag, übersandte die Familienkasse der Klägerin mit Schreiben vom 9.10.2015 einen neuen Antrag auf Kindergeld, den diese ausfüllen und wieder einreichen möge. Mit Bescheid – ebenfalls – vom 9.10.2015, aber unter der Kindergeldnummer …4, bewilligte eine andere Sachbearbeiterin der Familienkasse der Klägerin unter Bezugnahme auf den Antrag vom 11.8.2015 für ihre Tochter Kindergeld für den Zeitraum von Juli 2015 bis einschließlich Juli 2033. Es wurde fortlaufend auf das von der Klägerin angegebene Konto bei der B Bank überwiesen.

Unter dem 30.10.2015 füllte die Klägerin für ihre Tochter A1 auch den ihr zu der Kindergeldnummer …8 übersandten Antrag auf Kindergeld noch aus. Zu der Frage, „ob sie für dieses Kind bereits Kindergeld beantragt oder erhalten” habe (Nr. 4 der Anlage Kind) kreuzte die Klägerin „Nein” an. Außerdem fügte die Klägerin eine von der Stadt B erteilte Haushaltsbescheinigung bei, in der beide Kinder aufgeführt sind. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Antrag (Bl. 12 bis 17 der Akte zur Kindergeldnummer …8) Bezug genommen. Er enthielt die gleiche Versicherung der Vollständigkeit und Richtigkeit der Klägerin wie der am 11.8.2015 gestellte Antrag. Auf weitere Nachfrage der Familienkasse teilte die Klägerin unter dem 15.12.2015 noch die steuerliche Identifikationsnummer ihrer Tochter mit und erklärte ferner, dass sie die von der Familienkasse erbetene Geburtsurkunde zur Beantragung von Kindergeld – was zutrifft – bereits abgegeben habe, sie sei bei ihr nicht mehr vorhanden. Stattdessen fügte sie die für die Hilfe bei Schwangerschaft und Mutterschaft ausgestellte Geburtsurkunde bei. Durch Bescheid vom 14.1.2016 unter der Kindergeldnummer …8 entsprach ein anderer Sachbearbeiter der Familienkasse auch dem (zweiten) Kindergeldantrag für die Tochter für den Zeitraum von Juli 2015 bis einschließlich Juli 2033. Das Kindergeld aufgrund dieses Bescheids wurde ebenfalls fortlaufend auf das Konto bei der B Bank ausgezahlt.

Erst drei Jahre nach der ersten Bewilligung – durch einen maschinellen Bearbeitungs...

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