Entscheidungsstichwort (Thema)

Konkurrenzregelungen beim Kindergeld. Anspruch eines im Inland lebenden Vaters für sein bei der Kindesmutter in Polen lebendes Kind. vor Erlass eines ablehnenden Verwaltungsakts erhobene sog. Vornahmeklage ist unheilbar unzulässig

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Antwort auf die Frage, welche Ansprüche auf Familienleistungen Bürgern mit der Staatsangehörigkeit eines EU-Mitgliedstaats gegenüber den einzelnen Mitgliedstaaten zustehen und in welchem Verhältnis diese Ansprüche zueinander stehen (Anspruchskonkurrenz), ergibt sich seit dem 1.5.2010 in erster Linie aus den Regelungen der VO (EG) Nr. 883/2004.

2. Familienleistungen sind auch für Familienangehörige zu zahlen, die in anderen Mitgliedstaaten leben (Ausschluss von Wohnsitzklauseln). Die in anderen Mitgliedstaaten vorliegenden Tatbestände sind so zu behandeln, als wenn sie im zuständigen Mitgliedstaat vorliegen (Sachverhaltsgleichstellung).

3. Der Kindergeldanspruch eines im Inland lebenden Vaters wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass das Kind im Haushalt der Mutter in Polen lebt.

4. Eine vor Erlass eines ablehnenden Verwaltungsakts erhobene Sprungklage in der Form der sog. Vornahmeklage ist unheilbar unzulässig.

 

Normenkette

EStG §§ 32, 64 Abs. 2 S. 1; EGVO 883/2004 Art. 11, 67 S. 1; FGO § 44

 

Nachgehend

BFH (Urteil vom 08.09.2016; Aktenzeichen III R 48/12)

BFH (Urteil vom 08.09.2016; Aktenzeichen III R 48/12)

 

Tenor

Die Beklagte wird unter Änderung des Bescheids vom 21.04.2011 und der dazu ergangenen Einspruchsentscheidung vom 03.06.2011 verpflichtet, für das Kind B. ab Mai 2010 Kindergeld nach Maßgabe der Gründe dieses Urteils zu gewähren. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens werden zu 48 % dem Kläger und zu 52 % der Beklagten auferlegt.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs des Klägers abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.

Die Revision zum Bundesfinanzhof wird zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger war seit dem Jahr 2005 in Deutschland wohnhaft und wurde hier zur Einkommensteuer veranlagt. Seit dem 13.06.2006 war er aufgrund seiner Tätigkeit als selbständiger Berufsmusiker bei der Künstlersozialkasse versicherungspflichtig. Mit Schreiben vom 17.12.2010 beantragte er vergeblich Kindergeld für seinen im Jahr 1994 geborenen Sohn B., der in der Republik Polen bei der Kindesmutter lebt. Die Beklagte lehnte den Antrag für den Zeitraum ab Mai 2010 mit Bescheid vom 21.04.2011 ab. Das sich anschließende Einspruchsverfahren blieb erfolglos. Die Beklage berief sich darauf, dass der Kläger das Kind nicht in seinen ab Mai 2010 wieder in Deutschland unterhaltenen Haushalt aufgenommen habe, sondern die in Polen lebende Kindesmutter, deren Kindergeldanspruch somit vorgehe.

Der Kläger begehrt mit seiner Klage auf Kindergeld unter Aufhebung des ablehnenden Bescheides der Beklagten vom 21.04.2011 in der Form der Einspruchsentscheidung vom 03.06.2011 die Festsetzung von Kindergeld für seinen Sohn „für den noch nicht verjährten Zeitraum”.

Der Kläger trägt hinsichtlich des Zeitraums ab September 2009 bis April 2010 vor, dass er entgegen der Meldelage nach Ablauf der Aufenthaltserlaubnis seinen ständigen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland gehabt habe, und beruft sich insoweit auf Zeugenbeweis. Weiteren Vortrag für den Zeitraum von Januar bis Mai 2006 hat der Kläger nicht getätigt. In seiner ursprünglichen Klageschrift vom 04.07.2011 hatte der Kläger noch vorgetragen, dass der ursprüngliche, ablehnende Bescheid nicht auf die VO (EWG) 883/2004 und deren Durchführungs-VO VO(EWG) 987/2009 gestützt werden könnte. Ziel dieser VO sei lediglich, ungerechtfertigte Doppelleistungen zu vermeiden. Eine Regelung, wonach die in Polen lebende Kindesmutter eine Vorrangberechtigung ableiten könnte, sei nicht ersichtlich. Auch aus der Rechtsprechung des EUGH könne eine Vorrangberechtigung nicht abgeleitet werden. Dies wäre nur dann der Fall gewesen, wenn ein Elternteil nach einer Ehescheidung oder Trennung in Deutschland verbliebe und der andere Elternteil zusammen mit dem gemeinsamen Kind nach Polen zurückkehre.

Während des Gerichtsverfahrens hat die Beklagte mit Datum vom 16.02.2011 für den Zeitraum von Januar 2006 bis Mai 2006 Kindergeld i.H.v. 77 Euro monatlich gewährt. Die Beklagte hat sich insoweit auf die Konkurrenzregelung des Art. 12 Abs. 2 VO (EWG) Nr. 1408/71 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 der VO (EWG) Nr. 574/72 berufen. Der vorliegend eigentlich eingreifende Ausschluss des deutschen Kindergeldes führe dazu, dass in Deutschland das hälftige Kindergeld zu zahlen sei. Die Beklagte verweist insoweit auf das Urteil des Bundesfinanzhofs – BFH – vom 13.08.2002 VIII R 54/00. Für die Zeit von Juni 2006 bis Dezember 2008 hat die Beklagte mit Bescheid vom 16.02.2012 das Kindergeld auf 154 EUR und für die Zeit ab Januar 2009 bis August 2009 auf 164 Euro monatlich fes...

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