Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorsteuerabzug, Erstattung von Vorsteuerüberhängen, Verlängerung der Erstattungsfrist bei Vorsteuerüberhängen, Verzinsung von Vorsteuerguthaben
Leitsatz (amtlich)
Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass es einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, wonach dann, wenn von der Steuerverwaltung ein Steuerprüfungsverfahren eingeleitet und gegen einen Steuerpflichtigen wegen mangelnder Kooperation eine Geldbuße verhängt wird, der Zeitpunkt für die Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses bis zur Übergabe des Protokolls über diese Prüfung an den Steuerpflichtigen hinausgeschoben und die Zahlung von Verzugszinsen verweigert werden kann, selbst wenn die Dauer des Steuerprüfungsverfahrens übermäßig lang ist und nicht zur Gänze auf das Verhalten des Steuerpflichtigen zurückzuführen ist.
Normenkette
EGRL 112/2006
Beteiligte
Glencore Agriculture Hungary Kft |
Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatóság |
Verfahrensgang
Fovárosi Közigazgatásiés Munkaügyi (Beschluss vom 24.03.2016; Abl.EU 2016, Nr. C 296/19) |
Tatbestand
„Vorlage zur Vorabentscheidung ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem ‐ Richtlinie 2006/112/EG ‐ Art. 183 ‐ Grundsatz der steuerlichen Neutralität ‐ Vorsteuerabzug ‐ Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses ‐ Überprüfungsverfahren ‐ Geldbuße, die im Zuge eines solchen Verfahrens gegen den Steuerpflichtigen verhängt wird ‐ Verlängerung der Erstattungsfrist ‐ Ausschluss der Zahlung von Verzugszinsen“
In der Rechtssache C-254/16
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Budapest, Ungarn) mit Entscheidung vom 24. März 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Mai 2016, in dem Verfahren
Glencore Agriculture Hungary Kft., vormals Glencore Grain Hungary Kft.,
gegen
Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatóság
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal sowie der Richter A. Rosas und E. Jarašiūnas (Berichterstatter),
Generalanwalt: M. Wathelet,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der Glencore Agriculture Hungary Kft., vormals Glencore Grain Hungary Kft., vertreten durch D. Kelemen und Z. Várszegi, ügyvédek,
‐ der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér, G. Koós und A. M. Pálfy als Bevollmächtigte,
‐ der tschechischen Regierung, vertreten durch J. Vláčil und M. Smolek als Bevollmächtigte,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Lozano Palacios und L. Havas als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 183 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Glencore Agriculture Hungary Kft., vormals Glencore Grain Hungary Kft. (im Folgenden: Glencore), und der Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatóság (Direktion für Rechtsbehelfsangelegenheiten der nationalen Steuer- und Zollverwaltung, Ungarn) (im Folgenden: Steuerverwaltung) wegen der Zahlung von Verzugszinsen im Zusammenhang mit der Erstattung eines Mehrwertsteuerüberschusses.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„Übersteigt der Betrag der abgezogenen Vorsteuer den Betrag der für einen Steuerzeitraum geschuldeten Mehrwertsteuer, können die Mitgliedstaaten den Überschuss entweder auf den folgenden Zeitraum vortragen lassen oder nach den von ihnen festgelegen Einzelheiten erstatten.
…“
Ungarisches Recht
Rz. 4
Wie sich aus der Vorlageentscheidung ergibt, wird gemäß § 37 Abs. 4 der Adózás rendjéről szóló 2003. évi XCII. törvény (Gesetz Nr. XCII von 2003 über die Besteuerungsordnung, Magyar Közlöny 2003/131 [XI. 14.], im Folgenden: Besteuerungsordnung) die Gewährung einer dem Steuerzahler zustehenden Haushaltszuwendung in den Anhängen dieses Gesetzes oder in einem gesonderten Gesetz festgelegt. Die Haushaltszuwendung und die zurückgeforderte Mehrwertsteuer sind nach dem Tag des Eingangs des Antrags oder der Erklärung und frühestens 30 Tage nach Fälligkeit der Zuwendung bzw. 75 Tage nach Fälligkeit der Mehrwertsteuer zu zahlen. Wird die Haushaltszuwendung von der Steuerverwaltung festgesetzt, wird sie innerhalb einer Frist von 30 Tagen gewährt, die mit dem Inkrafttreten der Festsetzungsentscheidung beginnt.
Rz. 5
Gemäß § 37 Abs. 4 Buchst. c der Besteuerungsordnung ist die Frist für die Auszahlung, wenn die Prüfung der Begründetheit des Anspruchs innerhalb von 30 Tagen nach dem Tag des Eingangs des Antrags (der Erklärung) eingeleitet und wegen einer Behinderung der Prüfung eine Geldbuße auferlegt oder eine Zwangsvorführung angeordnet...