Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Steuerrecht. Mehrwertsteuer. Richtlinie. Recht auf Vorsteuerabzug. Versagung. Steuerhinterziehung. Lieferkette. Versagung des Vorsteuerabzugs, wenn der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit seinem Erwerb an einem Umsatz beteiligt, der in eine Umsatzsteuerhinterziehung einbezogen war

 

Normenkette

Verfahrensordnung des Gerichtshofs Art. 99; RL 2006/112/EG Art. 167-168

 

Beteiligte

Finanzamt Wilmersdorf

HR

Finanzamt Wilmersdorf

 

Tenor

Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Praxis nicht entgegensteht, nach der einem Steuerpflichtigen, der Waren erworben hat, die Gegenstand einer auf einer vorhergehenden Umsatzstufe der Lieferkette begangenen Umsatzsteuerhinterziehung waren, und der davon wusste oder hätte wissen müssen, das Recht auf Vorsteuerabzug versagt wird, obwohl er an dieser Steuerhinterziehung nicht aktiv beteiligt war.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Finanzgericht Berlin-Brandenburg (Deutschland) mit Entscheidung vom 5. Februar 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 27. Februar 2020, in dem Verfahren

HR

gegen

Finanzamt Wilmersdorf

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič sowie der Richter E. Juhász und I. Jarukaitis (Berichterstatter),

Generalanwalt: E. Tanchev,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • von HR, vertreten durch Rechtsanwalt M. Wulf,
  • der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und S. Eisenberg als Bevollmächtigte,
  • der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und O. Serdula als Bevollmächtigte,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Jokubauskaite und L. Mantl als Bevollmächtigte,

aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,

folgenden

Beschluss

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 167 und 168 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1).

Rz. 2

Das Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen HR und dem Finanzamt Wilmersdorf (Deutschland) (im Folgenden: Finanzverwaltung) wegen der Versagung des Vorsteuerabzugs für den Erwerb von Getränken in den Steuerjahren 2009 und 2010.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rz. 3

Art. 167 der Richtlinie 2006/112 in Titel X („Vorsteuerabzug”) Kapitel 1 („Entstehung und Umfang des Rechts auf Vorsteuerabzug”) bestimmt:

„Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.”

Rz. 4

Im selben Kapitel sieht Art. 168 dieser Richtlinie vor:

„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:

a) die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden;

…”

Rz. 5

Art. 273 Abs. 1 der Richtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.”

Deutsches Recht

Rz. 6

§ 15 des Umsatzsteuergesetzes (BGBl. I 2005 S. 386) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung bestimmt in seinem Abs. 1:

„Der Unternehmer kann die folgenden Vorsteuerbeträge abziehen:

1. die gesetzlich geschuldete Steuer für Lieferungen und sonstige Leistungen, die von einem anderen Unternehmer für sein Unternehmen ausgeführt worden sind. Die Ausübung des Vorsteuerabzugs setzt voraus, dass der Unternehmer eine nach den §§ 14, 14a ausgestellte Rechnung besitzt. …

…”

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

Rz. 7

In den Jahren 2009 und 2010 betrieb HR – unter Mitarbeit ihres Ehemanns – einen Getränkegroßhandel. In ihren Umsatzsteuererklärungen für diese Steuerjahre machte sie Vorsteuern aus Rechnungen der P GmbH in Höhe von 993 164 Euro für das Jahr 2009 und 108 417,87 Euro für das Jahr 2010 geltend, die tatsächlich erbrachte Getränkelieferungen betrafen.

Rz. 8

Aus zwei mittlerweile rechtskräftigen strafrechtlichen Urteilen geht hervor, dass P die an HR gelieferten Getränke unter Begehung mehrerer Umsatzsteuerhinterziehungen bezogen hat. Nach den strafgerichtlichen Feststellungen wurde P durch...

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