Es ist anerkannt, dass über die Regelbeispiele des § 370 Abs. 3 S. 2 AO hinaus auch ein sog. unbenannter besonders schwerer Fall der Steuerhinterziehung möglich ist. Denn im Rahmen der Strafzumessung ist nach § 370 Abs. 3 AO eine Gesamtwürdigung vorzunehmen, da der Gesetzgeber sich für die Regelbeispieltechnik entschieden hat. Dabei gibt es zum einen eine Strafschärfung mit unbenannten weiteren Merkmalen und zum anderen tatbestandlich bestimmte Ausformulierungen nach Art einer Strafzumessungsregel. Beachten Sie: Das Gericht muss bei Verwirklichung eines Regelbeispiels eben nicht zwingend einen besonders schweren Fall annehmen.

Die Indizwirkung des Regelbeispiels kann vielmehr entfallen. Dies ist anzunehmen, wenn die Gesamtwürdigung aller Umstände, die das Unrecht oder die Schuld gemindert erscheinen lassen, ergibt, dass diese Faktoren jeweils für sich oder in ihrer Gesamtheit so gewichtig sind, dass sie bei einer Gesamtabwägung die Regelwirkung entkräften. Es müssen in dem Tun oder in der Person des Täters Umstände vorliegen, die das Unrecht seiner Tat oder seiner Schuld deutlich vom Regelfall abheben, so dass die Anwendung des erschwerten Strafrahmens unangemessen erscheint (BGH v. 2.12.2008 – 1 StR 416/08, BGHSt 53, 71 = wistra 2009, 107; Joecks in Joecks/Jäger/Randt, Steuerstrafrecht, 8. Aufl. 2015, § 370 AO Rz. 561; Schauf in Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rz. 1089 [Oktober 2019]; Tormöhlen, AO-StB 2011, 153 [154]).

Andererseits kann das Gericht aber auch einen besonders schweren Fall annehmen, wenn ein Regelbeispiel nicht erfüllt ist (BGH v. 28.2.1984 – 1 StR 870/83, wistra 1984, 147; Schauf in Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rz. 1089 [Oktober 2019]; Joecks in Joecks/Jäger/Randt, Steuerstrafrecht, 8. Aufl. 2015, § 370 AO Rz. 561; Jäger in Klein, 15. Aufl. 2020, § 370 AO Rz. 277; Flore in Flore/Tsambikakis, Steuerstrafrecht, 2. Aufl. 2016, § 370 AO Rz. 547; Rolletschke in Rolletschke/Kemper/Roth, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rz. 1076 [Mai 2015]). Dann aber muss das Tatunrecht den Regelbeispielen vergleichbar sein.

Beachten Sie: Das Nichtvorliegen eines Regelbeispiels entfaltet negative Indizwirkung (vgl. BGH v. 5.5.2011 – 1 StR 116/11, wistra 2011, 347; Fischer, 69. Aufl. 2022, § 46 StGB Rz. 94; Rolletschke in Rolletschke/Kemper/Roth, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rz. 1076 [Mai 2015]). Dies bedeutet, dass grundsätzlich kein besonders schwerer Fall vorliegt, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 370 Abs. 3 S. 2 AO nicht gegeben sind, es sei denn die Gesamtwürdigung aller Tatumstände und der Täterpersönlichkeit ergibt bei wertender Betrachtung, dass die Bestrafung aus dem Normalstrafrahmen unangemessen erscheint.

 

Beispiele

(vgl. Peters in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 370 AO Rz. 708 [Juli 2019]:

  • gewerbsmäßiges Handeln,
  • Tatbegehung mittels Urkundenfälschungen,
  • Verstöße gegen die Kontenwahrheit nach § 154 AO,
  • Einschaltung von Strohleuten,
  • organisierte Kriminalität,
  • Verwendung von sog. Krypto-Handys.

Beraterhinweis Übertragen auf die Problematik der Regelbeispiele des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 5 AO bedeutet dies, dass ein unbenannter besonders schwerer Fall auch angenommen werden kann, wenn andere Steuern als USt oder Verbrauchsteuern bandenmäßig hinterzogen worden sind (z.B. ESt in den Fällen der Cum-/Ex-Geschäfte).

Für die Fälle des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 6 AO bedeutet es, dass die Nutzung ausländischer Gesellschaften zum Zweck der Verschleierung von Einkommens- und Vermögensverhältnissen und Finanztransaktionen mit dem Ziel der Steuerverkürzung ohne weiteres als unbenannter besonders schwerer Fall einzustufen wäre (gl.A. Peters in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 370 AO Rz. 781 [Juli 2019]). Hinzu kommt, dass in der Praxis des Steuerstrafrechts wohl kaum eine Briefkastengesellschaft im Ausland mit viel Aufwand gegründet würde, um Steuerbeträge von weniger als 50.000 EUR zu hinterziehen. Jenseits dieser Betragsgrenze aber greift bereits § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO (BGH v. 2.12.2008 – 1 StR 416/08, BGHSt 53, 71 = wistra 2009, 107; v. 28.7.2010 – 1 StR 332/10, wistra 2010, 449; v. 21.8.2012 – 1 StR 257/12, wistra 2013, 28).

Selbst wenn im Einzelfall bei Einschaltung ausländischer Briefkastenfirmen kein besonders schwerer Fall anzunehmen wäre, könnte es im Rahmen der Strafzumessung nach § 46 Abs. 2 StGB strafschärfend berücksichtigt werden, wenn der Angeklagte als Berechtigter hinter Offshore-Gesellschaften stand, bei denen es sich um Briefkastenfirmen handelte, die keine eigene wirtschaftliche Tätigkeit entfalteten und die wahren Beherrschungs- und Beteiligungsverhältnisse durch Treuhandvereinbarungen verschleiert und den FinBeh. verschwiegen wurden (BGH v. 13.3.2019 – 1 StR 367/18, NZWiSt 2019, 388 = wistra 2019, 498).

 

Service: Knittel, Steuerliche Behandlung von "Cum/Cum-Transaktionen" durch das BMF-Schreiben v. 9.7.2021, AO-StB 2021, 400; Peters, Das neue Regelbeispiel des § 370 Abs. 3 Nr. 6 AO (Verwendung von Drittstaatgesellschaften), AO-StB 2017, 248; Tormöhlen, Der besonders schwere Fall der...

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