Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesetzlicher Richter: Pflicht zur Vorlage an den EuGH

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Der gesetzliche Richter wird in Fällen, in denen keine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs eingeholt worden ist, nur dann entzogen, wenn die Vorlageverpflichtung gemäß Art. 177 Abs. 3 EWG-Vertrag willkürlich unterlassen wird.

2. Die Frage nach dem gesetzlichen Richter ist eine Frage des innerstaatlichen Rechts, die in allen Fällen der Vorlageverpflichtung unter gleichen Maßstäben geprüft werden muß. Eine umfassende Nachprüfung der Vorlageverpflichtung aus Art. 177 EWG-Vertrag durch das BVerfG findet in diesem Zusammenhang nicht statt, denn sie würde das BVerfG entgegen seiner eigentlichen Aufgaben in die Rolle eines „Vorlagen-Kontroll-Gerichts” versetzen.

 

Normenkette

GG Art. 101 Abs. 1 S. 2, Art. 3 Abs. 1; EWGV Art. 177 Abs. 3

 

Verfahrensgang

BFH (Beschluss vom 10.07.1984; Aktenzeichen VII R 49/79)

 

Gründe

1. Die Beschwerdeführerin ist nicht in ihren Rechten aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt.

a) Der Europäische Gerichtshof ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (BVerfGE 73, 339 ≪366 f.≫).

Durch eine Maßnahme, Unterlassung oder Entscheidung eines Gerichts wird der gesetzliche Richter jedoch nur dann entzogen, wenn diese Maßnahme, Unterlassung oder Entscheidung auf Willkür beruht (st. Rspr. seit BVerfGE 3, 359 ≪363 f.≫). Das gilt auch, wenn ein Gericht die Verpflichtung zur Vorlage an ein anderes Gericht, das über eine bestimmte Rechtsfrage zu entscheiden hat, außer acht läßt. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG schützt nicht gegen Verfahrensfehler, die infolge eines Irrtums des Gerichts unterlaufen (st. Rspr.; vgl. BVerfGE 29, 198 ≪207≫). Der gesetzliche Richter wird auch in den Fällen, in denen keine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs eingeholt worden ist, nur dann entzogen, wenn die Vorlageverpflichtung gemäß Art. 177 Abs. 3 EWG-Vertrag willkürlich unterlassen wird (st. Rspr.; BVerfGE 29, 198 ≪207≫; 29, 213 ≪219≫; 31, 145 ≪169≫; 45, 142 ≪181≫; 73, 339 ≪369≫; 75, 223 ≪245≫; BVerfG, Beschluß der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 9. November 1987 – 2 BvR 808/82 –, EuGRZ 1988, S. 109).

Die Frage nach dem gesetzlichen Richter ist auch hier eine Frage des innerstaatlichen Rechts, die in allen Fällen der Vorlageverpflichtung unter gleichen Maßstäben geprüft werden muß. Eine umfassende Nachprüfung der Vorlageverpflichtung aus Art. 177 EWG-Vertrag findet in diesem Zusammenhang nicht statt, denn sie würde das Bundesverfassungsgericht entgegen seiner eigentlichen Aufgaben in die Rolle eines „Vorlagen-Kontroll-Gerichts” versetzen (Kammerbeschluß vom 9. November 1987, a.a.O.). Allerdings ist der Maßstab des Art. 101 Abs. 1 GG auch vom Sinn und Zweck der in Art. 177 Abs. 3 EWG-Vertrag statuierten Vorlagepflicht geprägt, nämlich eine möglichst einheitliche Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten (Kammerbeschluß vom 9. November 1987, a.a.O.).

b) Nach diesem vom Gemeinschaftsrecht bestimmten Willkürmaßstab ist Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG jedenfalls dann nicht verletzt, wenn ein Gericht die Vorlageverpflichtung an den Europäischen Gerichtshof nach Art. 177 Abs. 3 EWG-Vertrag mit rechtlich nachvollziehbarer und sachlich einleuchtender Begründung verneint und sich begründete Zweifel an der Richtigkeit der Auslegung der gemeinschaftsrechtlichen Frage durch das Gericht nicht aufdrängen. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG wird nur dann verletzt, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat; dies ist dann der Fall, wenn mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechts gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen sind (Kammerbeschluß vom 9. November 1987, a.a.O.).

c) Der Bundesfinanzhof hat danach im vorliegenden Fall die Vorlage an den Europäischen Gerichtshof jedenfalls nicht wilkürlich unterlassen. Die Begründung des Bundesfinanzhofs, daß eine Vorlagepflicht nicht besteht, ist rechtlich nachvollziehbar und sachlich einleuchtend. Soweit die Beschwerdeführerin geltend macht, daß der Bundesfinanzhof sich bei den Gerichten der übrigen Mitgliedstaaten oder dem Europäischen Gerichtshof überzeugen müsse, daß seine Auslegung des Gemeinschaftsrechts offenkundig richtig sei, mag eine solche Erkundigung beim Europäischen Gerichtshof über die einschlägige Rechtsprechung der mitgliedstaatlichen Gerichte sinnvoll sein. Eine verfassungsrechtliche Verpflichtung zur Erkundigung über die einschlägige Rechtsprechung bestand im vorliegenden Fall jedenfalls nicht.

Der Bundesfinanzhof verneint eine Vorlagepflicht nach Art. 177 Abs. 3 EWGV mit der Erwägung, die richtige Auslegung und Anwendung der gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften sei offenkundig. Die hierfür gegebene, an der einschlägigen Judikatur des Europäischen Gerichtshofs orientierte und sich mit den Argumenten der Beschwerdeführerin auseinandersetzende Begründung ist rechtlich vertretbar. Der Bundesfinanzhof hat sich ausführlich mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Änderung von Währungsausgleichsbeträgen und zum Vertrauensschutz auseinandergesetzt und diese auf den vorliegenden Fall angewandt. Begründete Zweifel an der Richtigkeit der Auslegung des Bundesfinanzhofs drängen sich nicht in einer Weise auf, daß die Nichtvorlage an den Europäischen Gerichtshof willkürlich erscheint. Die Beschwerdeführerin macht mit ihrer Verfassungsbeschwerde zwar geltend, daß es sich um einen einzigartigen Fall handele und daß die Ausführungen des Bundesfinanzhofs nicht ausreichend seien, um seine Behauptung zu stützen, die Auslegung des Gemeinschaftsrechts sei derart offenkundig, daß keine Vorlageverpflichtung bestehe. Aus ihrem Vorbringen läßt sich jedoch nicht entnehmen, daß die von ihr vertretene Auffassung zu der gemeinschaftsrechtlichen Frage deutlich den. Vorzug vor der vom Bundesfinanzhof vertretenen Rechtsmeinung verdient. Damit wird ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht dargelegt.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1556451

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