Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensverzögerung beim Sozialgericht wegen anhängiger, entscheidungserheblicher Vorfragen beim Finanzgericht bzw. Finanzamt. Begründungsfrist für Verfassungsbeschwerde

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn das Sozialgericht mit seiner Entscheidung zuwartet, bis im Besteuerungsverfahren oder im finanzgerichtlichen Verfahren endgültig über den Kinderfreibetrag entschieden wurde.

2. Zwar besteht die Möglichkeit, die Begründung der Verfassungsbeschwerde nachträglich in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu ergänzen. Nach Fristablauf darf jedoch kein neuer Sachverhalt zum Gegenstand der Verfassungsbeschwerde gemacht werden.

 

Normenkette

GG Art. 19 Abs. 4; BKGG § 44e; EStG § 54

 

Verfahrensgang

BFH (Beschluss vom 08.08.1991; Aktenzeichen III B 442/90)

 

Tatbestand

I.

Soweit sich die Verfassungsbeschwerden gegen den Beschluß des Bundesfinanzhofs richten, haben sie keine Aussicht auf Erfolg.

1. Die Rüge der Beschwerdeführer, dem Beschluß des Bundesfinanzhofs fehle die Begründung, kann ihren Verfassungsbeschwerden nicht zum Erfolg verhelfen. Verfassungsrechtlich ist es auch unter dem Blickwinkel des Art. 3 Abs. 1 GG und des Rechtsstaatsprinzips grundsätzlich nicht zu beanstanden, daß Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs i.d.F. des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs vom 22. Dezember 1989 (BGBl. 1989 I, 2404) den Bundesfinanzhof der Verpflichtung enthebt, einen Beschluß zu begründen, mit dem eine Nichtzulassungsbeschwerde als unbegründet zurückgewiesen wird. Dies erschwert es zwar den Beschwerdeführern, die Entscheidung nachzuvollziehen und mag für sie deshalb unbefriedigend sein. Dem Grundgesetz läßt sich jedoch nicht entnehmen, daß jede – auch eine mit ordentlichen Rechtsmitteln nicht mehr anfechtbare letztinstanzliche – gerichtliche Entscheidung stets mit einer Begründung zu versehen ist (BVERFGE 50, 287 ≪289 f.≫).

2. Die übrigen Rügen der Beschwerdeführer sind unzulässig.

a) Soweit die Beschwerdeführer geltend machen, durch die einkommensteuerrechtliche Behandlung ihrer finanziellen Belastungen durch unterhaltspflichtige Kinder in ihren Rechten aus Art. 3, 6 und 20 GG verletzt zu sein, ist ihr Vortrag nicht hinreichend substantiiert. Die Verfassungsbeschwerden sind innerhalb der einmonatigen Frist des § 93 Abs. 1 BVERFGG nicht nur einzulegen, sondern auch in einer § 23 Abs. 1 Satz 2 Hs. 1, § 92 BVERFGG genügenden Weise zu begründen. Dazu gehört, daß das angeblich verletzte Recht bezeichnet und der seine Verletzung enthaltende Vorgang substantiiert dargelegt wird (BVERFGE 81, 208 ≪214≫). Da die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde nicht beigelegt wurde, läßt sich nicht beurteilen, ob die ausdrücklich angegriffene Entscheidung des Bundesfinanzhofs Grundrechte verletzt. Gleiches gilt, soweit die Verfassungsbeschwerde so zu verstehen sein sollte, daß sie sich auch gegen das zugrundeliegende Urteil des Finanzgerichts Berlin richtet, das ebenfalls nicht vorliegt.

b) Soweit die Beschwerdeführer einwenden, der Bundesfinanzhof habe ihren Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt, sind ihre Verfassungsbeschwerden ebenfalls unsubstantiiert und damit unzulässig. Es bleibt völlig unklar, was Gegenstand des in der Beschwerdeschrift angesprochenen Schriftverkehrs zwischen dem Bundesfinanzhof und dem beklagten Finanzamt Reinickendorf war und inwieweit dieser einen Bezug zum Gegenstand des Verfahrens hat, gegen dessen abschließende Entscheidung durch den Bundesfinanzhof sich die Verfassungsbeschwerden richten. Das Schreiben des Bundesfinanzhofs liegt nicht vor.

c) Die Rüge der Beschwerdeführer, die Geschäftsverteilung beim Bundesfinanzhof entspreche nicht verfassungsrechtlichen Anforderungen, so daß sie ihrem gesetzlichen Richter entzogen worden seien (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG), ist verspätet erhoben worden und daher unbeachtlich. Da der angegriffene Beschluß des Bundesfinanzhofs dem Prozeßvertreter der Beschwerdeführer am 30. August 1991 zuging, lief die Verfassungsbeschwerdefrist am 30. September 1991 ab (§ 93 Abs. 1 BVERFGG). Eine Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG behaupteten die Beschwerdeführer erstmalig in einem Schreiben, das am 13. Dezember 1991 bei Gericht einging. Zwar haben die Beschwerdeführer die Möglichkeit, die Begründung der Verfassungsbeschwerde nachträglich in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu ergänzen. Nach Fristablauf darf jedoch kein neuer Sachverhalt zum Gegenstand der Verfassungsbeschwerde gemacht werden (BVERFGE 18, 85 ≪89≫; 77, 275 ≪278≫ st. Rspr.).

 

Entscheidungsgründe

II.

Soweit die Beschwerdeführer sich dagegen wenden, daß das Sozialgericht Berlin in dem anhängigen Klageverfahren über die Kindergeldnachzahlung immer noch keine abschließende Entscheidung getroffen habe, haben ihre Verfassungsbeschwerden keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Zwar folgt aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ein Grundrecht der Beschwerdeführer auf effektiven Rechtsschutz. Wirksamer Rechtsschutz bedeutet zumal auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. Die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens ist nach den besonderen Umständen des einzelnen Falles zu bestimmen (BVERFGE 55, 349 ≪369≫). Dabei kann nicht außer Betracht bleiben, inwieweit der Einzelne etwa durch Wahrnehmung prozessualer Rechte, durch zögerliches Betreiben seiner Rechtssache oder in anderer Weise die Verfahrensdauer mitzuverantworten hat. Die Beschwerdeführer trifft hier eine solche Mitverantwortung.

Aus dem in Fotokopie der Beschwerdeschrift beigefügten Schreiben des Sozialgerichts Berlin ergibt sich nämlich, daß das Verfahren zeitweise zum Ruhen gebracht wurde, und zwar offenbar im Einverständnis mit dem Beschwerdeführer zu 2). Zu berücksichtigen ist weiterhin, daß die Beschwerdeführer gegen die Einkommensteuerbescheide 1983 bis 1985 Rechtsbehelfe eingelegt haben, welche die Bestandskraft dieser Bescheide verhinderten (1983 und 1984) oder noch verhindern (1985). Der sozialgerichtlich geltend gemachte Nachzahlungsanspruch gem. § 44e des Bundeskindergeldgesetzes hängt jedoch davon ab, daß bei dem Anspruchsteller für das betreffende Jahr nicht der erhöhte Kinderfreibetrag gemäß § 54 Einkommensteuergesetz in der Fassung des Steueränderungsgesetzes 1991 vom 24. Juni 1991 (BGBl. I S. 1322) abgezogen werden kann. Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn das Sozialgericht mit seiner Entscheidung zuwartet, bis im Besteuerungsverfahren oder im finanzgerichtlichen Verfahren endgültig über den Kinderfreibetrag entschieden wurde. Hinsichtlich des Einspruchsverfahrens betreffend den Einkommensteuerbescheid für 1985 weisen die Beschwerdeführer selbst darauf hin, mit dem Finanzamt ein Ruhen des Verfahrens vereinbart zu haben.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1513769

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