Beteiligte

Kläger und Revisionskläger

Beklagte und Revisionsbeklagte

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt von der beklagten Landesversicherungsanstalt die Gewährung des vorgezogenen Altersruhegeldes wegen einjähriger Arbeitslosigkeit (§ 1248 Abs. 2 Satz 1 Reichsversicherungsordnung -RVO- i.d.F. vom 23. Februar 1957). Der im Jahre 1911 geborene Kläger, der zunächst versicherungspflichtig beschäftigt war, stand später als Beamter im Dienste der Deutschen Bundesbahn. Er wurde Ende Juni 1969 wegen Dienstunfähigkeit in den Ruhestand versetzt. Seine in den Jahren 1969 und 1971 gestellten Anträge auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit blieben erfolglos. Im Mai 1972 beantragte der Kläger das vorgezogene Altersruhegeld wegen einjähriger Arbeitslosigkeit. Die Beklagte lehnte den Antrag mit der Begründung ab, der Kläger sei nicht arbeitslos im Sinne des § 1248 Abs. 2 RVO gewesen (Bescheid vom 20. Oktober 1972). Das Sozialgericht (SG) hat die Klage mit Urteil vom 9. August 1973 abgewiesen, das Landessozialgericht (LSG) die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 22. April 1974): Der Begriff der Arbeitslosigkeit im Sinne des § 1248 Abs. 2 RVO setze neben der objektiven Arbeitsfähigkeit des Versicherten seine ernsthafte Arbeitsbereitschaft voraus. Es müsse der Wille bestehen, in erster Linie durch Arbeit, nicht aber durch Rente ein Einkommen zu erzielen. Gegen einen ernsthaften Arbeitswillen des Klägers spreche, daß er für denselben Zeitraume für den er vorgebe, arbeitslos gewesen zu sein, zugleich geltend gemacht habe, er sei erwerbsunfähig. Bei einem Versicherten, der wie der Kläger durch den wiederholt gestellten Antrag auf Erwerbsunfähigkeitsrente zum Ausdruck bringe, sein Leistungsvermögen sei bis zur Erwerbsunfähigkeit gemindert, könne von einem ernsthaften Bemühen um Arbeit nicht gesprochen werden.

Mit der zugelassenen Revision rügt der Kläger, daß das LSG den Begriff der Arbeitslosigkeit unrichtig ausgelegt sowie § 128 Sozialgerichtsgesetz (SGG) verletzt habe. § 1248 Abs. 2 RVO gehe von dem Begriff der Arbeitslosigkeit im Sinne der Arbeitslosenversicherung aus; nach § 103 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) sei im Gegensatz zum früheren Recht ein "ernstlicher" Arbeitswille nicht, mehr erforderlich. Im übrigen habe er seine Arbeitsbereitschaft nicht nur durch wiederholte Vorsprache beim Arbeitsamt, sondern auch durch eigene Bewerbungen und Anzeigen dargetan. Seine Anträge auf Erwerbsunfähigkeitsrente stünden dazu nicht in Widerspruch.

Der Kläger beantragt, die Urteile der Vorinstanzen sowie den Bescheid der Beklagten aufzuheben und diese zur Gewährung des vorgezogenen Altersruhegeldes vom 1. Juni 1972 an zu verurteilen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die Entscheidung des LSG für richtig. Gegen eine ernsthafte Arbeitsbereitschaft des Klägers spreche nicht nur die wiederholte Beantragung der Rente, sondern auch, daß er als Ruhestandsbeamter wirtschaftlich auf eine erneute Erwerbstätigkeit nicht angewiesen sei.

Die Revision des Klägers ist begründet; sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückweisung des Rechtsstreits an das LSG. Das LSG hat keine Feststellungen getroffen, die eine abschließende Entscheidung über die Gewährung des vorgezogenen Altersruhegeldes an den Kläger erlauben. Das LSG hat den wiederholt gestellten Antrag des Klägers auf Erwerbsunfähigkeitsrente als Ausdruck mangelnder Arbeitsbereitschaft angesehen und demgemäß die Arbeitslosigkeit verneint. Dem Berufungsurteil läßt sich nicht eindeutig entnehmen, ob das LSG der Ansicht ist, es bestünde ein Rechtssatz, wonach die Beantragung von Erwerbsunfähigkeitsrente einem Arbeitswillen generell entgegenstehe, oder ob lediglich für den Einzelfall entschieden worden ist, daß es en der ernsthaften Arbeitsbereitschaft gefehlt habe. Für die erste Möglichkeit spricht die Zulassung der Revision durch das LSG. Bei beiden Betrachtungsweisen hält das angefochtene Urteil einer Nachprüfung nicht stand.

Falls das LSG zum Ausdruck bringen wollte, die wiederholte Beantragung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit schließe stets eine ernsthafte Arbeitsbereitschaft aus, so kann der Senat dem nicht beitreten. Maßgebende Vorschrift für den Anspruch des Klägers auf vorgezogenes Altersruhegeld vom 1. Juni 1972 an ist § 1248 Abs. 2 Satz 1 RVO i.d.F. des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes vom 23. Februar 1957 (§ 1248 Abs. 2 Satz 1 RVO a.F. - BGBl. I S. 45), der bis zum Inkrafttreten des § 1248 Abs. 2 RVO i.d.F. des Rentenreformgesetzes vom 16. Oktober 1972 (BGBl. I S. 1965) am 1. Januar 1973 galt. Neben der hier unstreitigen Vollendung des 60. Lebensjahres und der Erfüllung der Wartezeit setzt § 1248 Abs. 2 Satz 1 RVO a.F. die Zurücklegung einer einjährigen Arbeitslosigkeit voraus. Wie der Kläger zu Recht betont hat, sind die Merkmale, die den Begriff der Arbeitslosigkeit kennzeichnen, dem Recht der Arbeitslosenversicherung zu entnehmen (BSG SozR Nrn. 15, 19, 39, 40 und 61 zu § 1248 RVO). Danach ist der Arbeitnehmer arbeitslos, der vorübergehend nicht beschäftigt ist und der Arbeitsvermittlung objektiv und subjektiv zur Verfügung steht, d.h. der arbeitsfähig und arbeitsbereit ist.

Wie der Senat bereits entschieden hat, erfüllt trotz fehlender ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift nur die ernsthafte Arbeitsbereitschaft die Voraussetzungen der Arbeitslosigkeit (Urteil des Senats vom 10. August 1972 in Mitt.LVA Berlin 1972, 202 f.). Auch ein Versicherter, der unter den hier vorliegenden Voraussetzungen seit längerer Zeit keine abhängige Arbeit verrichtet hat, kann arbeitslos sein. An seine Arbeitsbereitschaft ist jedoch ein besonders strenger Maßstab anzulegen (BSG SozR Nrn. 10, 15, 19 und 33 zu § 1248 RVO), weil das Berufsleben in Fällen dieser Art in der Regel beendet ist und daher die Möglichkeit besteht, daß der Versicherte Iediglich den Anschein der Arbeitslosigkeit erwecken will, um in den Genuß des vorgezogenen Altersruhegeldes zu gelangen.

Trotz der somit gebotenen strengen Anforderungen an die Arbeitsbereitschaft eines pensionierten Beamten ist dem Kläger darin beizupflichten, daß allein der - auch wiederholt gestellte - Antrag auf Erwerbsunfähigkeitsrente einem ernsthaften Willen zur Arbeit nicht generell und zwingend entgegensteht. Das Gesetz kennt eine derartige Regelung nicht. Aus § 103 AFG in der hier anzuwendenden Fassung vom 25. Juni 1969 (BGBl. I S. 582) ergibt sich vielmehr, daß weder einem Antrag auf Rente wegen Berufsunfähigkeit noch einem solchen wegen Erwerbsunfähigkeit ohne weiteres das Fehlen einer ernsthaften Arbeitsbereitschaft des Versicherten entnommen werden kann. Wenn nach § 103 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AFG der Berufsunfähige der Arbeitslosenvermittlung objektiv zur Verfügung stehen kann, so ist der bloße Antrag auf Gewährung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit kein zwingendes Merkmal für eine mangelnde subjektive Verfügbarkeit. Dasselbe gilt für den Antrag auf Erwerbsunfähigkeitsrente. Nach § 103 Abs. 2 Satz 3 AFG geht der Anspruch eines Arbeitslosen auf Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit für die Zeit, für die der Arbeitslose aufgrund der gesetzlichen Fiktion des Satzes 2 als nicht berufsunfähig galt, bis zur Höhe des für diese Zeit gewährten Arbeitslosengeldes auf die Bundesanstalt für Arbeit über. Auch der Versicherte, der eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit beantragt hat, kann somit arbeitslos sein und demzufolge auch die erforderliche Arbeitsbereitschaft besitzen. Nur diese Auslegung entspricht dem Sinn des § 103 Abs. 2 AFG, einen nahtlosen Übergang zwischen Rentenversicherung und Arbeitslosenversicherung herzustellen (vgl. schriftlicher Bericht des Ausschusses für Arbeit zu BT-Drucks. V/4110 zu § 94 Abs. 1 a des Entwurfs, S. 18).

Falls das LSG aus den wiederholt gestellten Anträgen auf Erwerbsunfähigkeitsrente lediglich für den Einzelfall die Feststellung getroffen hat, der Kläger sei nicht arbeitsbereit gewesen, so hat es damit die Grenzen seines Rechts auf freie Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG) überschritten. Es durfte nicht ausschließlich aus der Stellung der Rentenanträge auf die fehlende Arbeitsbereitschaft schließen, sondern hätte - wie der Kläger zu Recht vorträgt - andere Beweismittel, die sich für die Feststellung der Arbeitsbereitschaft anboten, heranziehen müssen.

Das LSG wird bei seiner Entscheidung über eine ernsthafte Arbeitsbereitschaft des Klägers, an die - wie ausgeführt - strenge Anforderungen zu stellen sind, umfassende Ermittlungen anzustellen haben, insbesondere darüber, ob sich der Kläger durch eigenes Tun etwa durch Bewerbungen, Anzeigen ect. - um eine Arbeit bemüht hat. Möglicherweise wird den Fragen nachzugehen sein, ob die Pensionierung des Klägers auf sein eigenes Betreiben zurückzuführen ist und welche Umstände ihn bewogen haben könnten, erneut eine Arbeitsaufnahme ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Sodann werden alle Gründe, die für oder gegen eine ernsthafte Arbeitsbereitschaft sprechen, gegeneinander abzuwägen sein.

Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.4 RJ 199/74

Bundessozialgericht

 

Fundstellen

Dokument-Index HI518778

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