Beteiligte

… Kläger und Revisionsbeklagter

Bau-Berufsgenossenschaft Wuppertal, Wuppertal 1, Viktoriastraße 21, Beklagte und Revisionsklägerin

 

Tatbestand

G r ü n d e :

I.

Der Kläger begehrt die Feststellung, daß seine Schwerhörigkeit eine Berufskrankheit (BK) nach Nr 2301 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) ist.

Nach den Ermittlungen der Beklagten aufgrund der ärztlichen Anzeige über eine BK vom 28. Oktober 1983 war der im Jahre 1935 geborene Kläger seit dem Jahre 1968 als Baggerführer beschäftigt. Bis zum Jahre 1978 war er einem Beurteilungsschallpegel von über 85 dB(A) ausgesetzt, danach bis zum Jahre 1984 in der Regel einem solchen von unter 85 dB(A), kurzzeitig aber auch darüber.

Die Beklagte lehnte Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab, weil keine Lärmschwerhörigkeit als BK nach Nr 2301 der Anlage 1 zur BKVO vorliege. Die Voraussetzungen zur Feststellung einer BK seien nicht erfüllt, da der Kläger durch die beiderseitige Hörbeeinträchtigung nicht in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert sei (Bescheid vom 31. Juli 1984).

Das Sozialgericht (SG) Gießen hat ein audiologisches Fachgutachten des Prof. Dr. N (Universität M vom 30. Mai 1985 eingeholt. Der Gerichtssachverständige hat sein Gutachten dahin erstattet, daß der Kläger unter einer Lärmschwerhörigkeit annähernd geringen Grades beiderseits iS der Nr 2301 der Anlage 1 zur BKVO leide, die wahrscheinlich durch die langjährige Einwirkung von Baggerlärm verursacht worden sei. Die chronische Lärmschwerhörigkeit könne durch Behandlungsmaßnahmen nicht nennenswert beeinflußt werden. Eine Versorgung mit einem Hörgerät sei noch nicht erforderlich. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) sei vom 28. Oktober 1983 an mit 10 vH zu bewerten. Gestützt darauf hat das SG festgestellt, "daß bei dem Kläger eine Lärmschwerhörigkeit nach Nr 2301 der Anlage der BKVO besteht" (Urteil vom 11. Juni 1986). Die Berufung der Beklagten hat das Hessische Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen (Urteil vom 20. April 1988): Gegenstand des Rechtsstreits sei das Begehren des Klägers auf Feststellung seiner Lärmschwerhörigkeit als BK, das nach § 55 Abs. 1 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig und begründet sei. Die Feststellung sei für künftig in Betracht kommende Regelungen und Entscheidungen rechtserheblich. Gerade in Fällen wie dem vorliegenden, in denen geringfügige Schädigungen im Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht geeignet seien, Leistungsansprüche auszulösen, sei die verbindliche Feststellung geboten, daß sie die Voraussetzungen einer BK erfüllten.

Mit der - vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen - Revision rügt die Beklagte, das LSG habe § 551 Abs 1 und Abs 3 Reichsversicherungsordnung (RVO) verletzt. Bei einer berufsbedingten Hörbeeinträchtigung könne der Versicherungsfall "Lärmschwerhörigkeit" nur dann bejaht werden, wenn der Grad der MdE rechtserheblich sei. Mangels einer stützenden MdE nach § 581 Abs 3 RVO erfülle die beim Kläger festgestellte MdE von 10 vH diese Voraussetzung nicht. Wer die BK "Lärmschwerhörigkeit" dem Grunde nach anerkenne, entscheide damit konsequenterweise auch über den Zeitpunkt des Arbeitsunfalls nach § 551 Abs 3 RVO. Damit bestimme er zugleich den maßgebenden Jahresarbeitsverdienst (JAV) unabhängig von einer konkreten Leistung. Wenn die Leistungsvoraussetzungen später tatsächlich eingetreten seien, müßte sich die Höhe der Leistung dann zwangsläufig nach nicht mehr aktuellen Verdienstverhältnissen richten. Es wäre aber ein durch nichts zu rechtfertigender Widerspruch, die Bemessungsgrundlage für eine Verletztenrente nach einem anderen Tage zu richten als nach dem des Beginns der rentenberechtigenden MdE.

Die Beklagte beantragt,die angefochtenen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,die Revision zurückzuweisen.

Er hält die angefochtenen Urteile für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist unbegründet.

Der Kläger leidet an einer Lärmschwerhörigkeit als BK nach Nr 2301 der Anlage 1 zur BKVO vom 20. Juni 1968 (BGBl I 721) idF der Verordnung vom 8. Dezember 1976 (BGBl I 3329).

Gegenstand des Rechtsstreits ist das entsprechende Feststellungsbegehren des Klägers iS des § 55 Abs 1 SGG. Nach dieser Vorschrift kann mit der Klage ua die Feststellung des Bestehens eines Rechtsverhältnisses begehrt werden (Nr 1 aaO), wie es das Unfallversicherungsverhältnis zwischen dem Kläger als Versichertem und der Beklagten als Trägerin der Unfallversicherung darstellt. Der Kläger kann nicht nur verlangen, gegenwärtige Leistungspflichten der Beklagten aufgrund dieses Rechtsverhältnisses festzustellen, sondern auch darauf klagen, die Entschädigungsverpflichtung der Beklagten für einen drohenden künftigen Leistungsfall festzustellen (s Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, Band 1/2, S 240m I; Meyer-Ladewig, SGG, 3. Aufl, § 55 Rdnr 8; Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl, Anm 4 zu § 55). Dem entspricht die ausdrückliche Regelung des Gesetzes (Nr 3 aaO), daß er auch die Feststellung begehren kann, ob eine bestimmte Gesundheitsstörung die Folge einer BK ist. Diese Regelung mag zwar - argumentum e contrario - vergleichbare Feststellungsklagen außerhalb der Unfallversicherung oder des sozialen Entschädigungsrechts ausschließen (vgl Peters/Sautter/Wolff aaO). Aber sowohl der Wortlaut des Gesetzes als auch sein Sinn und Zweck auf dem Hintergrund der Entstehungsgeschichte (s die amtliche Begründung zum Entwurf eines SGG, BT-Drucks 4357, 1. Wahlperiode) lassen es zu, nach Nr 1 aaO die Feststellung zu begehren, daß eine bestimmte Gesundheitsstörung eine BK ist (vgl Brackmann aaO). Damit ist ein Gesundheitsschaden gemeint, der die Trägerin der Unfallversicherung zur Entschädigung verpflichtet, wenn in Zukunft der Leistungsfall eintreten wird, dh alle zusätzlichen, die jeweilige Leistung betreffenden Entschädigungsvoraussetzungen vorliegen werden (vgl Brackmann aaO; Peters/Sautter/Wolff aaO).

Voraussetzung ist auch für diese Feststellungsklage (§ 55 Abs 1 letzter Teilsatz SGG), daß der Kläger ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat. Dieses besondere Feststellungsinteresse liegt hier vor, wie das SG und das LSG zutreffend erkannt haben. Wer wie der Kläger einen - nicht ausgeheilten - Gesundheitsschaden geltend macht, der die Tatbestandsmerkmale einer BK nach § 551 Abs 1 RVO und der Anlage 1 zur BKVO erfüllt, hat grundsätzlich - nicht zuletzt aus Gründen der Beweissicherung - ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung seiner Rechtsposition im geltend gemachten Versicherungsverhältnis.

Das LSG hat festgestellt, daß der Kläger unter einer Lärmschwerhörigkeit annähernd geringen Grades beiderseits leidet, die auf berufliche Lärmeinwirkung zurückzuführen ist und nach dem Gutachten des Prof. Dr. N (ab 28. Oktober 1983) eine MdE von 10 vH bedingt (s auch Günther/Hymmen/Izbicki, Unfallbegutachtung, 8. Aufl, S 114). An diese tatsächlichen Feststellungen ist der Senat gebunden (§ 163 SGG), weil die Beklagte sie nicht mit begründeten Verfahrensrügen angegriffen hat. Der vorliegenden Fall betrifft somit nicht den denkbaren, daß eine Krankheit selbst oder ihr Ursachenzusammenhang mit der versicherten Tätigkeit erst nachgewiesen werden kann, wenn stärkere Folgeerscheinungen vorliegen.

Daraus folgt, daß der Feststellungsanspruch des Klägers begründet ist. Denn jedenfalls besteht zwischen der Beklagten und dem Kläger ein Versicherungsverhältnis, das die Beklagte gemäß § 551 Abs 1 RVO iVm Nr 2301 der Anlage 1 zur BKVO verpflichtet, den geltend gemachten Körperschaden des Klägers dann zu entschädigen, wenn die zusätzlichen Leistungsvoraussetzungen einer Krankheit iS der gesetzlichen Krankenversicherung oder einer MdE rentenberechtigenden Grades (§ 551 Abs 3 Satz 2 RVO) in Zukunft vorliegen werden.

Soweit die Beklagte dies zwar nicht zu bestreiten scheint, trotzdem aber offenbar aus rechtssystematischen Gründen die Meinung vertritt, die beim Kläger festgestellte Lärmschwerhörigkeit sei noch keine BK iS des Gesetzes und dementsprechend sei sie zu keinerlei Feststellung verpflichtet, vermag der Senat ihr nicht zu folgen.

§ 551 Abs 1 RVO stellt iVm der Anlage 1 zur BKVO die Tatbestandsmerkmale einer BK iS der RVO auf. Die Bezeichnung einer Krankheit als BK besagt, daß sämtliche Tatbestandsmerkmale erfüllt sind, die das Gesetz als versichertes Risiko (Gefahr) aus der Sicht des Versicherten und Wagnis auf seiten des Unfallversicherungsträgers für eine BK voraussetzt (s Langkeit, Zum Problem des Versicherungsfalls in der Sozialversicherung und in der Individualversicherung, ZVersWiss 1966, S 31 f, 33). Davon sind die weiteren Voraussetzungen zu unterscheiden, die das Gesetz für einen Entschädigungsanspruch wegen einer BK aufstellt.

Wer in diesem Zusammenhang den in § 551 RVO nicht verwendeten Begriff "Versicherungsfall" als die tatsächliche Verwirklichung des versicherten Risikos und des Wagnisses verwenden will (s zum Begriff des Versicherungsfalls BSGE 20, 48, 50; 23, 139, 141; 32, 270, 272 f), darf diese Unterscheidung zwischen der Beschreibung des Risikos und Wagnisses auf der einen Seite und dem Vorliegen aller Leistungsvoraussetzungen auf der anderen Seite nicht unberücksichtigt lassen (s BSGE 22, 278, 280; Langkeit aaO S 50; Brackmann aaO Band II S 4800 II, 490p f, 666r). Versicherungsfall ist kein allgemein gültiger Gesetzesbegriff mit festgelegtem Inhalt (vgl Ecker, Das Dogma vom Versicherungsfall , SGb 1966, 289). Jeweils nach den einschlägigen Rechtsvorschriften muß geklärt werden, ob dieser Begriff den - rechtssystematisch davon zu trennenden - Leistungsfall mitumfaßt oder nicht (s BSGE 40, 16, 17; Brackmann aaO Band II S 490q).

Auf die Vorschrift des § 551 RVO angewendet, entspricht es den praktischen Bedürfnissen beider Beteiligten des Versicherungsverhältnisses, im Hinblick auf die Regelungen des Abs 1 iVm der Anlage 1 zur BKVO und des Abs 3 zwischen Versicherungsfall einerseits und Leistungsfall andererseits zu unterscheiden. So hat der Senat in seinem Urteil vom 26. November 1987 (2 RU 20/87 - SozR 2200 § 551 Nr 31) bereits dargelegt, es sei der Natur der Sache nach schwierig oder gar unmöglich, in der gesetzlichen Unfallversicherung einheitlich den Eintritt des schädigenden Ereignisses als Versicherungsfall zu begreifen. Nach der Kennzeichnung des Arbeitsunfalls als ein nicht aus innerer Ursache auf einen Versicherten plötzlich einwirkendes, gesundheitlich schädigendes Ereignis muß ein solches haftungsbegründendes Ereignis zwar regelmäßig für Arbeitsunfälle festgestellt werden, aber BK'en im Gegensatz dazu entziehen sich dem. Mit ihnen erfaßt die gesetzliche Unfallversicherung Krankheiten, die sich regelmäßig durch schadhafte Einwirkungen in einer unbestimmten Vielzahl während einer länger dauernden Zeitspanne entwickeln. Die praktische Notwendigkeit, auch bei BK'en einen konkreten Zeitpunkt für den Beginn und die Berechnung der Entschädigung festlegen zu müssen, zwang den Gesetzgeber, in § 551 Abs 3 Satz 2 RVO alternativ zwei Ereignisse zu bestimmen, die von der BK hervorgerufen sein müssen: Der Beginn der Krankheit iS der gesetzlichen Krankenversicherung oder der Beginn der MdE. Der Senat hat entschieden, daß damit der Eintritt des Leistungsfalls gemeint ist, für die zweite Alternative also die MdE im Einzelfall ein rentenberechtigendes Ausmaß erreicht haben muß (SozR aaO).

Schon deshalb ist die Auffassung der Beklagten unzutreffend, die Feststellung einer Krankheit als BK entscheide zugleich auch über den Zeitpunkt des Arbeitsunfalls iS von § 551 Abs 3 RVO. Die in dieser Vorschrift getroffene Regelung geht gerade davon aus, daß dies nicht der Fall ist; sie enthält eine eigenständige Bestimmung für den Leistungsfall, für den allein und nicht auch zugleich für den Versicherungsfall der Beginn der Krankheit iS der Krankenversicherung oder der Beginn der Minderung der Erwerbsfähigkeit wesentlich ist.

Nicht erfaßt sind damit die Gesundheitsschäden, die zwar alle Tatbestandsmerkmale des § 551 Abs 1 RVO iVm einer in der Anlage 1 zur BKVO genannten Krankheit erfüllen, nicht aber die Voraussetzungen des § 551 Abs 3 Satz 2 RVO. Indessen entspricht es dem einheitlichen Zweck der gesetzlichen Unfallversicherung, den Eintritt eines Gesundheitsschadens, der unter diesen Voraussetzungen oder infolge eines Arbeitsunfalls entstanden ist, als den Versicherungsfall in der gesetzlichen Unfallversicherung zu begreifen (s BSGE 23, 139, 141; Brackmann aaO Band 480o II und Band III S 557). Darunter kann im Sozialversicherungsrecht grundsätzlich das Ereignis im Leben des Versicherten verstanden werden, das bei seinem Eintritt spezifische Nachteile und Gefährdungen für den Versicherten mit sich bringt, gegen die die Versicherung Schutz gewähren soll. Nicht zuletzt der vorliegende Fall führt eindrucksvoll vor Augen, daß der Versicherte regelmäßig ein dringendes Interesse hat, den Versicherungsfall der BK schon vor Eintritt des Leistungsfalls feststellen zu lassen.

Für Unfälle als Arbeitsunfälle ist auch in der Praxis der Unfallversicherungsträger - soweit ersichtlich - überhaupt nicht umstritten, Unfälle als Arbeitsunfälle und die dadurch verursachten Gesundheitsstörungen als Folgen der Arbeitsunfälle festzustellen, selbst wenn im Zeitpunkt der Feststellung weder eine unfallbedingte MdE noch die Notwendigkeit besteht, Heilbehandlung zu gewähren. Aber auch für BKn geht der Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften und ihm folgend jedenfalls eine Vielzahl von Berufsgenossenschaften, wie das Bescheidformular V 223b (Ablehnungsbescheid bei Berufskrankheiten mangels entschädigungspflichtiger Minderung der Erwerbsfähigkeit) zeigt, von der Auffassung des Senats aus.

Der Senat weicht auch nicht von dem Urteil des 8. Senats des BSG vom 11. Januar 1989 (8 RKnU 1/88) ab, da diese Entscheidung die Frage betrifft, ob silikotische Lungenveränderungen ohne dadurch bedingte funktionelle Beeinträchtigung von Atmung oder Kreislauf überhaupt den Tatbestand einer Quarzstaublungenerkrankung iS der Berufskrankheiten-Verordnung erfüllen. Neben der Entstehungsgeschichte der Entschädigung einer Silikose als Berufskrankheit geht der 8. Senat insbesondere davon aus, das bloße Vorhandensein beginnender bis leichter silikotischer Lungenveränderungen bedeute nicht, daß die körperlichen oder geistigen Kräfte des Versicherten durch die silikotischen Lungenveränderungen eingeschränkt seien. Demgegenüber folgt aus der Feststellung einer lärmbedingten Schwerhörigkeit zwangsläufig, daß das Hörvermögen des Versicherten eingeschränkt ist. Ob dies bereits in einem Grade der Fall ist, der zur Gewährung einer Verletztenrente führt oder Heilbehandlung bedingt, ist für die Feststellung der Schwerhörigkeit selbst ohne rechtliche Bedeutung. Das LSG hat im vorliegenden Fall jedoch festgestellt, daß beim Kläger eine lärmbedingte Schwerhörigkeit vorliegt und ein ursächlicher Zusammenhang mit seiner versicherten Tätigkeit besteht.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI517961

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