Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 03.05.1966)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 3. Mai 1966 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten dieses Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Der am 19. Januar 1901 geborene, inzwischen verstorbene Ehemann der Klägerin war von 1919 bis 1945 Lehrhauer und Hauer im Steinkohlenbergbau, Seit dem 3. Oktober 1949 bezog er Knappschaftsvollrente. Die Beklagte hatte die Gewährung einer Entschädigung nach der Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) mehrmals abgelehnt. Zuletzt wurde der Ehemann der Klägerin am 5. April 1951 auf Veranlassung der Beklagten von Dr. G. untersucht, der zu dem Ergebnis kam, es handele sich um Staublungenveränderungen II. Grades mit Beteiligung von Tuberkulose, besonders in der linken Spitze; besondere auf die Silikose zurückzuführende klinische Ausfallerscheinungen seien nicht hervorgetreten; eine Aktivität der Lungentuberkulose sei zwar wahrscheinlich, doch lasse sich bei einem Vergleich mit früheren Röntgenaufnahmen ein Fortschreiten der Erkrankung wesentlicher Art nicht erkennen. Am 2. Mai 1951 verstarb der Ehemann der Klägerin. Zur Feststellung der Todesursache wurde am 4. Mai 1951 von Dr. C. eine Obduktion und am 6. Mai 1952 von Prof. di B. (Pathologisches Institut der Bergbau-Berufsgenossenschaft in Bochum) ein Gutachten erstattet. Hiernach lag eine mittelgroße Silikose vor. Da diese nach dem Gutachten von Dr. G. vom 5. April 1951 keine klinisch feststellbaren Ausfallerscheinungen hervorgerufen habe, sei es fraglich, ob eine Berufskrankheit (BK) nach Nr. 17 a der 3./4. BKVO vorgelegen habe. Der Tod sei keine Folge dieser Silikose. Der staatliche Gewerbearzt in Bochum schloss sich dieser Ansicht an.

Die Beklagte lehnte daraufhin unter Bezug auf die vorgenannten ärztlichen Befunde und Stellungnahmen mit Bescheid vom 1. Juli 1952 den Antrag der Klägerin auf Hinterbliebenenentschädigung ab. Der Versicherte sei nicht an der BK, sondern an einem plötzlichen Versagen des Herzens gestorben, hervorgerufen durch das in das Herz penetrierende chron. Magengeschwür, ausgedehnte flächenhafte Herzbeutelverwachsungen und ausgedehnte Herzmuskelschwielen in der Wand der linken Kammer. Die festgestellten mittelschweren Staublungenveränderungen kämen daneben als Teilursache des Todes nicht in Betracht.

Mit der hiergegen von der Klägerin an das Knappschafts-Oberversicherungsamt eingelegten Berufung, die als Klage auf das Sozialgericht (SG) übergegangen ist, hatte die Klägerin Erfolg. Die dagegen eingelegte Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 7. Januar 1960 zurückgewiesen.

Auf die Revision der Beklagten hat das Bundessozialgericht (BSG) das Urteil des LSG aufgehoben und die Sache an das LSG zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen (Urteil vom 11. Dezember 1963 – 5 RKn 31/60). Es hat zur Frage der Kausalität im wesentlichen ausgeführt: „Wenn der Tod eines Versicherten naturwissenschaftlich durch mehrere Leiden verursacht ist, so ist eine daran beteiligte Unfallfolge (BK) dann als wesentliche Bedingung des Todes im Sinne der Kausalitätslehre der Sozialversicherung anzusehen und infolgedessen von der zuständigen Berufsgenossenschaft zu entschädigen, wenn der Versicherte entweder bei Fehlen der Unfallfolgen (bzw. der BK) noch mindestens ein Jahr länger gelebt hätte oder wenn er auch an den Unfallfolgen (bzw. der BK) allein spätestens innerhalb eines Jahres gestorben wäre”.

Wegen nicht genügender Tatsachenfeststellungen hat das BSG die Entscheidung in der Sache nicht selbst treffen können, sondern hat sie an das LSG zurückverwiesen, das unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des BSG und neuer Tatsachenfeststellungen eine neue Entscheidung treffen sollte.

Das LSG hat im Hinblick auf diese Rechtsansicht des BSG ein Ergänzungsgutachten von Prof. Dr. H. vom 16. April 1966 eingeholt und daraufhin mit Urteil vom 3. Mai 1966 die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG vom 7. April 1955 zurückgewiesen. Das Berufungsgericht hat dazu ausgeführt, es fühle sich wegen der inzwischen gewandelten Rechtsprechung des 5. Senats des BSG zur Kausalitätsfrage (Urteile vom 14. Januar 1965 – 5 RKn 57/60 – und vom 26. Februar 1965 – 5 RKn 39/60 –) nicht mehr an die im Urteil des 5. Senats des BSG vom 11. Dezember 1963 – 5 RKn 31/60 – entwickelten Grundsätze gebunden. Es komme entsprechend dem Urteil des BSG vom 14. Januar und 26. Februar 1965 nur darauf an, ob ein medizinisch gesehen erheblicher Kausalzusammenhang zwischen der BK und dem Tod zu bejahen sei.

Im vorliegenden Fall sei auf Grund des Ergänzungsgutachtens von Prof. Dr. H. vom 16. April 1966 i.V.m. dem bisherigen Beweisergebnis gesichert, daß die BK den Tod des Ehemannes der Klägerin beim konkreten Todesereignis am 2. Mai 1951 ursächlich in medizinischem Sinne erheblich mitverursacht habe. Bereits Prof. Dr. S. habe in seinem Gutachten vom 8. Juni 1953 den Staublungenveränderungen eine wesentliche Mitwirkung für den Enderfolg zuerkennt. Auch Prof. Dr. H. habe bereits in seinem Gutachten vom 14. November 1954 davon gesprochen, daß der Einfluß der Staublunge reichlich mittelschweren Grades für den plötzlichen Herztod beim Versicherten mitverantwortlich gewesen sei und schließlich habe auch der Internist Dr. M. die durch die Silikose herbeigeführte Schädigung des rechten Herzens als im wesentlichen Maße für den akuten Herztod verantwortlich gehalten. Es sei danach bewiesen, daß die BK eine rechtlich wesentliche mitursächliche Bedeutung für den Tod des Ehemannes der Klägerin gehabt habe; es sei dafür entscheidend, daß die durch die Silikose bedingte Belastung des Lungenkreislaufs von wesentlicher Bedeutung für den Zusammenbruch der Herzfunktion gewesen sei und schließlich damit den Tod des Versicherten im medizinischen Sinne mindestens in einem erheblichen Maße mitverursacht habe. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Mit der Revision beantragt die Beklagte,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils ihren Bescheid vom 1. Juli 1952 wiederherzustellen und die Klage abzuweisen,

hilfsweise

das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur neuer Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Sie ist der Ansicht, es werde im Revisionsverfahren vorweg zu prüfen sein, ob das LSG zu Recht angenommen habe, daß es wegen der zwischenzeitlichen Entscheidungen des 5. Senats des BSG vom 14. Januar 1965 – 5 RKn 57/60 – und vom 26. Februar 1965 – 5 RKn 39/60 – von der Bindung (§ 170 Abs. 4 des Sozialgerichtsgesetzes –SGG–) an die Kausalitätsgrundsätze des zurückverweisenden Urteils des gleichen Senats vom 11. Dezember 1963 – 5 RKn 31/60 – befreit sei.

Die Beklagte rügt im übrigen, das angefochtene Urteil beruhe auf einer fehlerhaften Interpretation der in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätsnorm. Die neueren Entscheidungen des 5. Senats des BSG stünden zudem in Widerspruch zu der Rechtsauffassung des 2. Senats des BSG zum Kausalitätsproblem.

Die Klägerin hat beantragt,

die Revision kostenpflichtig zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthafte Revision ist zulässig, aber nicht begründet.

Zunächst war zu prüfen, ob der erkennende Senat bei seiner jetzigen Entscheidung an die seinem zurückverweisenden Urteil vom 11. Dezember 1963 (SozR RVO Nr. 69 zu § 542 aF) zugrunde liegende Rechtsauffassung zur Frage der Kausalität bei gemeinsamer Verursachung des Todes durch eine BK und ein anderes Leiden gebunden ist. Der erkennende Senat hatte durch dieses Urteil das Urteil des Landessozialgerichts vom 7. Januar 1960 aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Nach § 170 Abs. 4 SGG hat das LSG in einem solchen Fall bei seiner Entscheidung die rechtliche Beurteilung, die das Revisionsgericht seinem zurückverweisenden Urteil zugrunde gelegt hat, zu beachten. Das Berufungsgericht hat vorliegend jedoch diesen Grundsatz wegen der zwischenzeitlich ergangenen Entscheidung des erkennenden Senats vom 14. Januar 1965 – 5 RKn 57/60 – (BSG 22, 200 = SozR RVO § 542 aF Nr. 73), in welchem dieser von seiner bisherigen Rechtsauffassung zur Frage der Kausalität bei gemeinsamer Verursachung des Todes durch eine BK und ein anderes Leiden abgegangen ist, nicht beachtet. Es hat vielmehr dieser Entscheidung die neuere Rechtsauffassung des erkennenden Senats, wie sie in dem Urteil vom 14. Januar 1965 – 5 RKn 57/60 – zum Ausdruck gekommen ist, zugrunde gelegt. Nach dieser Auffassung wird eine rechtlich wesentliche Verursachung des Todes durch eine Berufskrankheit angenommen, wenn diese den Tod zumindest in medizinisch erheblichem Maße mitverursacht hat, wobei offengelassen ist, ob eine rechtlich wesentliche Verursachung auch dann anzunehmen ist, wenn die Berufskrankheit den Tod zumindest um ein Jahr beschleunigt hat. Es kann hier dahinstehen, ob das LSG, wie die Beklagte meint, an die dem zurückverweisenden Urteil des erkennenden Senats zugrunde liegende rechtliche Beurteilung des Revisionsgerichts nach § 170 Abs. 4 SGG gebunden gewesen wäre. Auch wenn dies zuträfe, muß die Revision als unbegründet zurückgewiesen werden. Der erkennende Senat ist seinerseits jedenfalls an die Rechtsauffassung, die er in dem zurückverweisenden Urteil vom 11. Dezember 1963 – 5 RKn 31/60 – vertreten hat, nicht gebunden. Es ist zwar, obwohl es eine dem § 170 Abs. 4 SGG entsprechende Vorschrift für das Revisionsgericht nicht gibt, anerkanntes Recht, daß das Revisionsgericht in Anwendung des sich aus § 170 Abs. 4 SGG ergebenden Grundsatzes an die seinem zurückverweisenden Urteil zugrunde liegende Rechtsauffassung in demselben Umfang gebunden ist wie die Vorinstanz. Doch kann dies dann nicht gelten, wenn andere für das Revisionsgericht geltende Grundsätze die Anwendung des sich aus § 170 Abs. 4 SGG ergebenden Grundsatzes ausschließen. Das ist hier der Fall.

Das Revisionsgericht hat mehr noch als die Tatsachengerichte auf die Beständigkeit seiner Rechtsprechung zu achten, um den betroffenen Bevölkerungskreisen die Möglichkeit zu geben, ihre Lebensverhältnisse hierauf einzurichten. Wenn sich auch ein Wandel der Rechtsauffassung des Revisionsgerichts nicht immer vermeiden läßt, so sollte doch eine solche Änderung möglichst vermieden oder in engen Grenzen gehalten werden. Wenn sich aber nun einmal, wie im vorliegenden Fall, die Rechtsauffassung des Revisionsgerichts zu einer Rechtsfrage geändert hat, so erfordert der Grundsatz der Beständigkeit der Rechtsprechung, daß die neue Rechtsauffassung zukünftig in allen zu entscheidenden Fällen angewandt wird. Das muß auch in den Fällen der vorliegenden Art gelten, in welchen das Revisionsgericht noch einmal in derselben Rechtssache zu entscheiden hat, obwohl es in dem in derselben Sache früher ergangenen zurückverweisenden Urteil eine andere Rechtsauffassung vertreten hat. Das Erfordernis der Beständigkeit der Rechtsprechung hat in diesen Fällen ein größeres Gewicht als der sich aus § 170 Abs. 4 SGG ergebende Grundsatz der Selbstbindung des Revisionsgerichts, sodaß dieser zurücktreten muß. Dies ist in diesen Fällen auch aus einem anderen Grund unbedenklich. Durch die Vorschrift des § 170 Abs. 4 SGG und den sich hieraus ergebenden Grundsatz der Selbstbindung des Revisionsgerichts soll vor allem verhindert werden, daß in derselben Sache mehrmals voneinander abweichende Entscheidungen des LSG und des Revisionsgerichts ergehen und dadurch mehrfache Zurückverweisungen erforderlich werden. Diese Gefahr aber besteht vorliegend nicht, weil der erkennende Senat nunmehr in der Lage ist, endgültig in der Sache selbst zu entscheiden. Diese Ausnahme von dem Grundsatz der Selbstbindung des Revisionsgerichts gilt jedenfalls dann, wenn, wie im vorliegenden Fall, derselbe Senat des BSG das zurückverweisende Urteil erlassen, auch die diesem zugrundeliegende Rechtsauffassung in einem späteren Urteil aufgegeben und nunmehr über die erstere Rechtssache erneut zu entscheiden hat (vgl. dazu auch BVerwGE 7, 159).

Das angefochtene Urteil ist auch in der Sache zutreffend. Das Berufungsgericht hat die in der gesetzlichen Unfallversicherung geltende Kausalitätsnorm richtig angewandt. Es hat vor allem die in dem Urteil des erkennenden Senats vom 14. Januar 1965 – 5 RKn 57/60 – entwickelten Grundsätze für die Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs in den Fällen, in welchen eine BK und ein anderes Leiden gemeinsam den Tod des Versicherten verursacht haben, zutreffend angewandt.

Wenn das LSG zu dem Ergebnis gekommen ist, daß die BK den Tod des Ehemanns der Klägerin rechtlich wesentlich verursacht hat, so ist dies nicht zu beanstanden. Das LSG durfte nach der neuen Auffassung des erkennenden Senats annehmen, daß die BK rechtlich wesentliche Ursache des Todes des Versicherten ist, weil sie den Tod des Versicherten in zumindest erheblichem Maße mitverursacht hat.

Die Beklagte verkennt im übrigen nicht nur, daß die neuere Rechtsauffassung des erkennenden Senats im wesentlichen der des früheren Reichsversicherungsamts entspricht, sondern auch, daß der 2. Senat des BSG dieselbe Rechtsauffassung vertritt (vgl. Beschluß vom 25. August 1967 – 2 RU 247/66 –). Die Ausführungen der Beklagten geben dem erkennenden Senat keine Veranlassung, seine Rechtsauffassung auf zugeben. Wie dann zu entscheiden wäre, wenn die BK den Tod des Versicherten nicht in medizinisch erheblichem Maße mitverursacht hätte, sie aber den Tod des Versicherten um wenigstens ein Jahr beschleunigt hätte, bedarf hier keiner Entscheidung, da schon aus dem ersteren Grunde anzunehmen ist, daß die BK rechtlich wesentliche Ursache des Todes des Versicherten ist.

Der Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente ist nach alledem begründet, so daß das LSG zu Recht die Berufung der Beklagten gegen das im Ergebnis nicht zu beanstandende Urteil des Sozialgerichts vom 7. April 1955 zurückgewiesen hat.

Demzufolge ist die Revision der Beklagten gegen das angefochtene Urteil zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Unterschriften

Dr. Dapprich, Bundesrichter Dr. Witte ist durch Urlaub an der Unterschriftsleistung verhindert, Mellwitz, Dr. Dapprich

 

Fundstellen

MDR 1969, 961

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