Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Revisionszulassungsgrund. Geltendmachung bei Mehrfachbegründungen im Urteilsspruch. Verfahrensfehler. Beweiswürdigung

 

Orientierungssatz

Werden von einem Gericht mehrere selbstständige Begründungen gegeben, die den auf der Beweiswürdigung beruhenden Urteilsausspruch schon jeweils für sich genommen tragen, und erschöpft sich eine alternative Begründung der Beweiswürdigung in einem Beweiswürdigungsmangel, ohne ansonsten eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufzuwerfen, steht § 128 Abs 1 S 1 SGG einer Grundsatzrüge entgegen. Insoweit muss der Beschwerdeführer für jede Begründungsalternative aufzeigen, dass die gesetzliche Beschränkung der Verfahrensrüge nicht greift (vgl BSG vom 25.4.2006 - B 1 KR 97/05 B = Juris RdNr 5 mwN).

 

Normenkette

SGG § 160a Abs. 2 S. 3, § 160 Abs. 2 Nrn. 1, 3, § 128 Abs. 1 S. 1

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Urteil vom 27.06.2017; Aktenzeichen L 5 KR 170/15)

SG Würzburg (Urteil vom 23.01.2015; Aktenzeichen S 17 KR 460/12)

 

Tenor

Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 27. Juni 2017 wird als unzulässig verworfen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

 

Gründe

I. Der bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherte Kläger beantragte eine kieferorthopädische Behandlung (erster Behandlungsplan Dr. W., 29.5.2012). Nach Einholung eines kieferorthopädischen Gutachtens (Dr. H., von der Kassenzahnärztlichen Vereinigung Bayern auf Veranlassung der Beklagten bestimmt) lehnte die Beklagte den Antrag ab. Während des Klageverfahrens reichte der Kläger einen zweiten, abweichenden Behandlungsplan ein, dem die Beklagte antragsgemäß entsprach. Auf die Fortsetzungsfeststellungsklage des Klägers hat das SG ein Sachverständigengutachten (Prof. Dr. Dr. F., Direktor der Universitätsklinik für Kieferorthopädie, Universität Halle-Wittenberg) eingeholt und auf dessen Grundlage festgestellt, dass die Ablehnung der nach dem ersten Behandlungsplan vorgesehenen kieferorthopädischen Behandlung rechtswidrig war. Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen: Das Gutachten des Sachverständigen und dessen ergänzende Stellungnahme seien überzeugend. Die Beklagte hätte nur den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) mit der Begutachtung beauftragen dürfen, nicht aber Dr. H. Dies sei auch bei der richterlichen Beweiswürdigung zu berücksichtigen. Im Übrigen sei die im Verwaltungsverfahren eingeholte gutachtliche Einschätzung von Dr. H. fehlerhaft und ihr schon allein deshalb nicht zu folgen. Nichts anderes ergebe sich aus dessen ergänzender Stellungnahme in der ersten Instanz (Urteil vom 27.6.2017).

Die Beklagte wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil.

II. Die Beschwerde der Beklagten ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 SGG iVm § 169 S 3 SGG zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus § 160a Abs 2 S 3 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung des allein geltend gemachten Revisionszulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung.

1. Wer sich auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) beruft, muss eine Rechtsfrage klar formulieren und ausführen, inwiefern diese Frage im angestrebten Revisionsverfahren entscheidungserheblich sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl zB BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38; BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f; BSG SozR 3-2500 § 240 Nr 33 S 151 f mwN). Die Beklagte richtet ihr Vorbringen hieran nicht aus. Sie formuliert zwar als Rechtsfrage:

"Ist es zulässig, die Prüfung der Voraussetzungen von Leistungspflichten der Krankenkassen im Bereich der Zahnmedizin von nach den Bundesmantelverträgen bestellten Gutachtern durchführen zu lassen oder ist diese Aufgabe seit Errichtung des MDK per legem ausschließlich diesem zugewiesen (Auslegung der § 275 Abs. 1, 4 SGB V bzw. §§ 82, 87 Abs. 1a SGB V, § 13 Abs. 3a S. 4 SGB V)?"

Der Sache nach wendet sich die Beklagte mit dieser Rechtsfrage gegen die auf das Gutachten des Sachverständigen gestützte richterliche Überzeugungsbildung des LSG, dass der Kläger schon gemäß dem ersten Behandlungsplan einen Anspruch auf eine kieferorthopädische Behandlung gehabt habe. Ein Streit über verwaltungsverfahrensrechtliche und prozessuale Fragen (hier: gerichtliche Verwertbarkeit des im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachtens von Dr. H. und dessen erstinstanzlich erfolgter ergänzender Stellungnahme) kann grundsätzliche Bedeutung haben. Eine hierauf gestützte Grundsatzrüge wird durch die Möglichkeit der Verfahrensrüge nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG nicht ausgeschlossen. Dies darf aber nicht zur Umgehung der nach § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG eingeschränkten Nachprüfbarkeit von Verfahrensmängeln führen (vgl BSG Beschluss vom 25.6.2013 - B 12 KR 83/11 B - Juris RdNr 14). Ein Verfahrensmangel kann nicht auf § 128 Abs 1 S 1 SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) gestützt werden. Ein Beschwerdeführer kann diese gesetzliche Beschränkung der Verfahrensrüge - soweit sie reicht - nicht dadurch erfolgreich umgehen, dass er die Rüge in eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung kleidet (allgemein zu der sich aus § 128 Abs 1 S 1 SGG ergebenden Beschränkung Hauck in Zeihe/Hauck, SGG, Stand August 2017, § 160 Anm 23 mwN; vgl auch BSG Beschluss vom 25.10.2017 - B 1 KR 18/17 B - Juris RdNr 5 mwN). Die Beklagte zeigt nicht auf, dass es um eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung geht, bei der die gesetzliche Beschränkung der Verfahrensrüge nicht greift. Weder legt sie dar, dass neben einem Beweiswürdigungsmangel aufgrund der Nichtberücksichtigung des Gutachtens von Dr. H. ein sonstiger eigenständiger Verfahrensfehler vorliegt (vgl zu einem Verstoß gegen § 118 Abs 1 SGG iVm § 407a Abs 2 S 1 ZPO, BSG SozR 4-1750 § 407a Nr 1), der Gegenstand einer Grundsatzrüge sein kann, noch trägt sie ausreichend dazu vor, dass sich aus der Nichtberücksichtigung eines im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachtens auch eine Rechtsfrage von grundsätzlicher verwaltungsverfahrensrechtlicher Bedeutung für die Rechtmäßigkeit des ergangenen Verwaltungsakts - und ggf für den Urteilstenor mit Blick auf § 131 Abs 5 SGG - ergeben kann. Insoweit behauptet sie lediglich, eine allgemeine Ermächtigungsgrundlage für die Einschaltung von Vertragsgutachtern ergebe sich aus § 21 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB X.

Selbst wenn man der Beschwerdebegründung ein ausreichendes Vorbringen zur grundsätzlichen verwaltungsverfahrensrechtlichen Bedeutung noch entnehmen könnte, geht sie nicht auf die Entscheidungserheblichkeit der Rechtsfrage ein. Dies wäre umso mehr geboten gewesen, als das LSG seine Entscheidung nicht allein darauf gestützt hat, dass es für seine Überzeugungsbildung nur das Gutachten des Sachverständigen und dessen ergänzende Stellungnahme heranziehen dürfe. Das LSG hat vielmehr im Anschluss an die Begründung, warum es dessen sachverständige Bewertung für überzeugend hält, ausgeführt: "Hingegen hat Dr. H. lediglich auf einer Seite kurz dargestellt, dass beim Kläger seinerzeit kein KIG Grad 3 oder höher vorliege. Er hat weder den Sachverhalt vollständig erfasst noch eine klinische Einstufung entsprechend den geltenden Leitlinien vorgenommen. Diesem Gutachten ist schon allein deshalb nicht zu folgen." Werden aber von einem Gericht in dieser Weise mehrere selbstständige Begründungen gegeben, die den auf der Beweiswürdigung beruhenden Urteilsausspruch schon jeweils für sich genommen tragen, und erschöpft sich eine alternative Begründung der Beweiswürdigung in einem - hier in der Beschwerdebegründung noch nicht einmal behaupteten - Beweiswürdigungsmangel, ohne ansonsten eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufzuwerfen, steht § 128 Abs 1 S 1 SGG einer Grundsatzrüge entgegen. Insoweit muss der Beschwerdeführer für jede Begründungsalternative aufzeigen, dass die gesetzliche Beschränkung der Verfahrensrüge nicht greift (vgl zu einem entsprechend gelagerten Problem BSG Beschluss vom 25.4.2006 - B 1 KR 97/05 B - Juris RdNr 5 mwN). Daran fehlt es hier.

Der Senat weist ergänzend darauf hin, dass die von der Beklagten aufgeworfene (verwaltungsverfahrensrechtliche) Rechtsfrage in Fällen, in denen sie entscheidungserheblich ist, klärungsbedürftig und von grundsätzlicher Bedeutung ist. Sieht ein LSG ein nach den Regelungen der Bundesmantelverträge eingeholtes Gutachten entscheidungstragend als unverwertbar an, weil nur der MDK gesetzlich ermächtigt sei, ein derartiges Gutachten für die KK zu erstellen, muss es zwingend die Revision zulassen (vgl § 160 Abs 2 Nr 1 SGG; zur Absenkung der Anforderungen an die Beschwerdebegründung bei objektiv willkürlicher Nichtzulassung der Revision vgl BSG Beschluss vom 26.9.2017 - B 1 KR 37/17 B - Juris RdNr 4, für SozR 4-1500 § 160a Nr 37 vorgesehen, dort zur Divergenz).

2. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).

3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI11576455

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