Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Die Finanzgerichte sind grundsätzlich von sich aus nicht befugt, die Vollziehung von Bescheiden auszusetzen, die durch Rechtsmittel bei ihnen angefochten worden sind.

 

Normenkette

AO §§ 244, 246, 251, 242

 

Tatbestand

Streitig ist, ob das Finanzgericht die Vollziehung von Bescheiden, die mit Rechtsmitteln angefochten sind, von sich aus aussetzen kann.

Die Bfin. wurde durch Steuerbescheide für 1958 und 1959 zur Beförderungsteuer herangezogen. Ihre Einsprüche wies das Finanzamt als unbegründet zurück. Gegen die Einspruchsentscheidung legte die Bfin. durch ihren Prozeßbevollmächtigten am 16. Juni 1960 Berufung an das Finanzgericht ein; sie machte die Verfassungswidrigkeit der Vorschrift des § 11 Abs. 1 Ziff. 2 Buchst. b des Beförderungsteuergesetzes in der Fassung vom 13. Juni 1955 (BGBl 1955 I S. 366) geltend. Der Vorsitzende der erkennenden Kammer des Finanzgerichts setzte die Entscheidung über die Berufung gemäß § 264 AO mit Rücksicht darauf aus, daß vor dem Bundesverfassungsgericht ein Verfahren schwebe, dessen Ausgang für das Verfahren vor dem Finanzgericht von Bedeutung sei; gemäß § 264 Abs. 3 AO wurde von der Bfin. die Entscheidung des Finanzgerichts über die Aussetzung des Verfahrens sowie die Vorlegung der Sache an das Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 100 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) beantragt.

Mit Schreiben vom 19. Juli 1960 an das Finanzgericht beantragte die Bfin. durch ihren Prozeßbevollmächtigten, die Vollziehung der angefochtenen Beförderungsteuerbescheide für 1958 und 1959 bis zur Entscheidung über die Berufung auszusetzen. Das Finanzgericht wies den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung als unbegründet zurück, da es nicht selbst die Aussetzung der Vollziehung von Steuerbescheiden anordnen könne.

Gegen das Urteil des Finanzgerichts hat die Bfin. durch ihren Bevollmächtigten Rb. eingelegt. Sie ist der Meinung, daß das Finanzgericht selbst zur Aussetzung der Vollziehung nach §§ 251 Satz 2, 244 Satz 1 AO und auf Grund von Art. 19 Abs. 4 GG berechtigt sei, und daß es einer vorherigen Entscheidung durch die Finanzverwaltungsbehörden nicht bedürfe.

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. hat keinen Erfolg.

Der in einem Teil des Schrifttums vertretenen Meinung, nach §§ 251 Satz 2, 244 Satz 1 AO bestehe eine selbständige, allgemeine Befugnis der Finanzgerichte, die Vollziehung von Steuerbescheiden auszusetzen, wenn Berufung an sie eingelegt ist, vermag der Senat nicht zu folgen. Aus den Vorschriften der AO ist für eine solche rechtliche Beurteilung nichts zu entnehmen. Nach § 251 Satz 2 AO kann vielmehr (nur) die Behörde, die den Bescheid erlassen hat, die Vollziehung aussetzen, nicht aber können dies die Steuergerichte. Auch § 244 (Satz 1) AO berechtigt das Finanzgericht nicht zu einer selbständigen Aussetzung. Wie das Finanzgericht Düsseldorf im Urteil I 3/56 A vom 11. April 1956 (Entscheidungen der Finanzgerichte 1956 S. 297 Nr. 336) zutreffend ausgeführt hat, nimmt der im Dritten Abschnitt des Zweiten Teils der AO ("Rechtsmittel") stehende § 244 mit den Worten "im Besteuerungsverfahren" Bezug auf die Vorschriften der §§ 160 bis 227 AO (Zweiter Abschnitt des Zweiten Teils: "Ermittlung und Festsetzung der Steuer"). Das ergibt auch der Zusammenhang von § 243 und § 244 AO. Gegenüber der Vorschrift des § 244 AO ist die gleichfalls in dem Dritten Abschnittes zweiten Teils der AO ("Rechtsmittel") stehende Vorschrift des § 251 Satz 2 AO die - dem § 244 - vorgehende Sondervorschrift. Es geht auch - entgegen den Ausführungen der Bfin. - nicht fehl, wenn das Finanzgericht zur Begründung der Vorentscheidung unter anderem bemerkt hat, die Bfin. könne sich nicht mit Recht auf die Entscheidungen des Bundesfinanzhofs III 187/52 S vom 10. September 1954 (BStBl 1954 III S. 328, Slg. Bd. 59 S. 307) und des Finanzgerichts Düsseldorf III 2/58 A vom 30. September 1959 (Deutsche Steuerzeitung Ausgabe B 1960 S. 18) sowie V 1/60 A vom 11. März 1960 (Der Betriebs-Berater - BB - 1960 S. 432) berufen, da in allen diesen Fällen der Entscheidung des Finanzgerichts ein Finanzverwaltungsverfahren vorausgegangen sei. Die Bfin. verkennt, daß die Vorinstanz in der Vorentscheidung nicht ausgeführt hat, die bezeichneten Entscheidungen sprächen gegen die Ansicht der Bfin., sondern daß das Finanzgericht dargelegt hat, diese Entscheidungen sprächen nicht für die Bfin. Die Begründung der Vorentscheidung trifft zu. Auch das von der Bfin. im Rechtsbeschwerdeverfahren erneut angezogene Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf vom 11. März 1960 (BB 1960 S. 432) ist nicht in dem von der Bfin. aufgefaßten Sinne auszulegen. Wenn das Finanzgericht davon spricht, daß es vernünftig sei und dem Grundsatz der Prozeßökonomie entspreche, die Entscheidung über die Aussetzung der Vollziehung den Behörden und Gerichten zu überlassen, die über das Rechtsmittel in der Hauptsache zu befinden haben, so sind - in Verbindung mit dem vorhergehenden Satz: Entgegen der Auffassung der Oberfinanzdirektion hält das Finanzgericht die Finanzverwaltungsbehörden für die Aussetzung der Vollziehung ... für zuständig - die Worte: "den Behörden und Gerichten" so zu verstehen: den Finanzverwaltungsbehörden und den Gerichten im Rahmen der überprüfung der steuerlichen Verfügungen. Von einem selbständigen Recht der Finanzgerichte zur Aussetzung der Vollziehung von Steuerbescheiden ist nicht die Rede gewesen. Der Meinung, die Finanzgerichte seien auf Grund der §§ 251 Satz 2, 244 (Satz 1) AO selbständig von sich aus zur Aussetzung der Vollziehung von Steuerbescheiden befugt, würde der Senat auch nicht beitreten können.

Die Vorschrift des § 80 Abs. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung vom 21. Januar 1960 (BGBl I S. 17) gilt nicht für das Verfahren der Steuergerichte. Die im Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung der Finanzgerichtsbarkeit (Deutscher Bundestag, 3. Wahlperiode, Drucksache 127) in § 67 Abs. 3 vorgesehene Vorschrift anzuwenden, sind die Steuergerichte zur Zeit nicht in der Lage, da der Entwurf noch nicht geltendes Recht ist, die Gerichte aber nach diesem zu entscheiden haben.

Weiter hat die Bfin. geltend gemacht, die Vorschrift des Art. 19 Abs. 4 GG könne auch auf die Frage des selbständigen Rechts der Finanzgerichte, die Vollziehung der Verfügungen von Finanzverwaltungsbehörden auszusetzen, von Einfluß sein (zu dieser Frage siehe insbesondere auch Fließbach, Steuer und Wirtschaft 1954 Sp. 340 bis 342). Allerdings wären Fälle denkbar, in denen der von Art. 19 Abs. 4 GG garantierte Rechtsschutz praktisch nicht gewährt würde, wenn man in diesen besonderen Ausnahmefällen ein selbständiges Aussetzungsrecht des Finanzgerichts, an das in der Hauptsache Berufung eingelegt worden ist, verneinte. Der vorliegende Fall bietet jedoch für den Senat keinen Anlaß, diese Frage zu entscheiden, weil ein solcher (Ausnahme-)Fall nicht gegeben ist. Das Finanzgericht hat deshalb mit Recht im Streitfall den Antrag auf (selbständige) Aussetzung der Vollziehung abgelehnt.

 

Fundstellen

BStBl III 1961, 145

BFHE 1961, 395

BFHE 72, 395

StRK, AO:244 R 4

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