Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht, Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Die Nichtbeachtung der Vorschrift des § 257 Satz 2 AO stellt regelmäßig einen wesentlichen Verfahrensmangel (Verletzung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs) dar.

Der Mangel gilt als gerügt, wenn die Rechtsbeschwerde ein Vorbringen enthält, das an sich, um beachtet zu werden, vor dem Erlaß der Berufungsentscheidung geltend zu machen war, aber infolge des Verfahrensmangels der Berufungsinstanz nicht rechtzeitig geltend gemacht werden konnte.

 

Normenkette

AO § 257 S. 2; FGO § 96 Abs. 2; AO § 288/2; FGO § 115/2/3, § 119/3; AO § 290/1; FGO § 120 Abs. 2; GG Art. 103 Abs. 1

 

Tatbestand

Der Beschwerdeführer (Bf.) betreibt in A. ein Damenfriseurgeschäft. Bei seiner Veranlagung zur Einkommensteuer 1953 hat das Finanzamt dem erklärten Gewinn von 8.815 DM Aufwendungen für die Haltung eines Personenkraftwagens in Höhe von 1.734 DM und eine Benzinschuld von 130 DM zugerechnet. Es ist dabei davon ausgegangen, daß bei der Art. des vom Bf. betriebenen Geschäftes keine oder nur eine gelegentliche Benutzung eines Personenkraftwagens für betriebliche Zwecke in Betracht komme (Abschn. 97 Abs. 2 der Einkommensteuer-Richtlinien - EStR - 1953).

Mit der nach erfolglosem Einspruch eingelegten Berufung hat der Bf. geltend gemacht, er habe den Kraftwagen ausschließlich aus beruflichen Gründen angeschafft. Der von ihm betriebene Friseursalon gehöre zu den führenden Unternehmen dieser Branche in A. Seine Kundschaft sei sehr verwöhnt. Aus diesem Grunde könne er nur ausgesuchte Waren anbieten. Da die ihn aufsuchenden Handelsvertreter in der Regel nur Durchschnittsware führten, sei er gezwungen, die einschlägigen kosmetischen Artikel bei seinen Lieferanten selbst anzusehen und auszuwählen. Ferner sei eine Teilnahme an Kongressen und beruflichen Lehrgängen nicht zu umgehen. Außerdem sei der Personenkraftwagen auch für geschäftliche Fahrten innerhalb der Stadt A. sowie für Fahrten von der Wohnung zum Friseursalon verwendet worden.

An Fahrten zu auswärtigen Lieferfirmen im Jahre 1953 hat der Bf. auf Anfrage folgende geltend gemacht:

Vier Besuche bei der Parfümeriegroßhandlung W. in B., drei Besuche bei der Importfirma X in C., zwei Besuche bei der OHG Y. in D., einen Besuch bei der Lederwarenfabrik Z. in E.

Die Berufung hatte teilweise Erfolg. Das Finanzgericht hat die drei erstgenannten Firmen um Auskunft ersucht. Die Firma W. hat mitgeteilt, daß der Bf. die von ihm bezogenen Waren nicht selbst ausgewählt habe. Die beiden anderen Firmen haben die Vornahme persönlicher Bestellungen durch den Bf. bejaht, jedoch die Zahl seiner Besuche nicht näher angeben können. Von einem Auskunftsersuchen an die Firma Z. in E. hat das Finanzgericht abgesehen. Da es sich bei der Lederwarenfabrik um eine berufsfremde Branche handle, sei anzunehmen, daß für die geltend gemachte Fahrt in der Hauptsache private Gründe maßgebend gewesen seien.

Auf Grund der Angaben des Bf. und des Ergebnisses der Erhebungen, das dem Bf. nicht mitgeteilt worden ist, hat das Finanzgericht nach den Grundsätzen des Urteils des Bundesfinanzhofs IV 352/53 U vom 14. Oktober 1954 (Slg. Bd. 59 S. 383, Bundessteuerblatt - BStBl - 1954 III S. 358) eine teilweise betriebliche Nutzung des Kraftwagens für erwiesen angesehen. An auswärtigen Fahrten hat es dabei berücksichtigt: Zwei Fahrten nach C. (Firma X.), eine Fahrt nach D. (Firma Y.) und eine Fahrt nach F. (Besuch einer Fachausstellung) mit einer Gesamtwegstrecke von 2.500 km. Dazu hat es noch die Fahrten zwischen Wohnung und Betriebstätte mit einer geschätzten Wegstrecke von 300 km gerechnet, dagegen die Berücksichtigung weiterer betrieblicher Stadtfahrten abgelehnt. Es ist so zu einer gesamten Wegstrecke für betriebliche Fahrten von 2.800 km, das sind rund 25 v. H. der 1953 im ganzen gefahrenen Strecke von 11.374 km, gekommen. Dementsprechend hat das Finanzgericht 25 v. H. des vom Finanzamt zugerechneten Betrages von 1.864 DM, das sind 466 DM, zum Abzug zugelassen. Die Voraussetzungen des § 4 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) 1953 für eine Einschränkung des Abzuges wegen unangemessener Höhe der Aufwendungen hat das Finanzgericht nicht für gegeben erachtet, da bei den Anschaffungskosten von 6.250 DM nicht von einem Luxuswagen gesprochen werden könne.

In einem während der Rechtsbeschwerdefrist eingegangenen Schreiben vom 29. März 1956 hat der Bf. um nochmalige überprüfung gebeten. Es sei ihm unerklärlich, daß die Firma W. in B. seine Besuche in Abrede gestellt habe. Da die Firma außer einer Großhandlung noch eine Importabteilung unterhalte, die er aufgesucht habe, müsse hier ein Irrtum unterlaufen sein. Ferner könnten die Lederwaren nicht als berufsfremde Artikel bezeichnet werden, da er in seinem Geschäft auch die modernsten Leder-Neccessaire für Damen und Herren führe.

In einem drei Tage nach Ablauf der Rechtsbeschwerdebegründungsfrist eingegangenen Schreiben hat der Bf. auf Anfrage des Finanzgerichts mitgeteilt, daß sein vorhergegangenes Schreiben als Rechtsbeschwerde (Rb.) anzusehen sei. Zur Begründung der Rb. hat er weiter ausgeführt, das Finanzgericht hätte ihn vor der Urteilsfällung nochmals hören müssen, insbesondere hinsichtlich der negativen Auskunft der Firma W. in B., wobei der hier zweifellos vorliegende Irrtum aufgeklärt worden wäre. Ferner hat er die Anerkennung weiterer betrieblicher Stadtfahrten begehrt, da er vielfach Kundinnen, insbesondere nach Dauerwellenbehandlung, nach Hause fahren müsse. Im ganzen hat er die Anerkennung einer weiteren betrieblich gefahrenen Strecke von 7.300 km und damit einer betrieblichen Nutzung von etwa 90 v. H. beantragt.

 

Entscheidungsgründe

Das Schreiben des Bf. vom 29. März 1956 ist nach § 249 Abs. 2 der Reichsabgabenordnung (AO) als Rb. anzusehen. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung.

Die sachliche Beurteilung des Falles durch das Finanzgericht entspricht zwar der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs, insbesondere den Grundsätzen des oben genannten Urteils IV 352/53 U vom 14. Oktober 1954, und ist an sich nicht zu beanstanden. Daß auch Fahrten zwischen Wohnung und Betriebstätte bei Gewerbetreibenden zu den betrieblichen Fahrten zu rechnen sind, hat der Bundesfinanzhof in dem Urteil I 227/54 U vom 12. Juli 1955 (Slg. Bd. 61 S. 213, BStBl 1955 III S. 280) ausgesprochen, allerdings mit der Einschränkung, daß Hin- und Rückfahrten zur Einnahme des Mittagessens regelmäßig nicht mit einbezogen werden können.

Die Vorentscheidung muß jedoch aus verfahrensrechtlichen Gründen aufgehoben werden. Das Finanzgericht hat das Ergebnis seiner Erhebungen zum Nachteil des Bf. verwertet, indem es Fahrten zu der Firma W. überhaupt nicht, und Fahrten zu den Firmen X. und Y. in geringerer Anzahl, als vom Bf. geltend gemacht, berücksichtigt hat. Entgegen der eindeutigen Vorschrift des § 257 Satz 2 AO hat es das Finanzgericht unterlassen, dem Bf. vorher Gelegenheit zur äußerung zu geben. Darin liegt ein wesentlicher Verfahrensmangel (Versagung des rechtlichen Gehörs; siehe Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Oktober 1956 1 Bv R 440/54, Neue Juristische Wochenschrift 1957 Heft Nr. 1 S. 17, Deutsches Verwaltungsblatt 1957 S. 21, Die öffentliche Verwaltung 1957 S. 20). Ein solcher ist weiter darin zu erblicken, daß das Finanzgericht nicht geklärt hat, warum der Bf. die Fahrt zu der Lederwarenfabrik in E. als betriebliche Fahrt angegeben hat.

Die bezeichneten Verfahrensmängel sind zwar förmlich erst in dem nach Ablauf der Rechtsbeschwerdebegründungsfrist eingegangenem Schreiben gerügt. Die Rüge wäre hiernach verspätet (§§ 289 Abs. 2, 290 Abs. 1 AO). Es braucht jedoch nicht geprüft zu werden, ob dem Bf. wegen Versäumung der Begründungsfrist Nachsicht gewährt werden könnte. Denn die Verfahrensmängel sind bereits durch das Schreiben vom 29. März 1956 als gerügt anzusehen. Nach der Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs und Bundesfinanzhofs sind an die Rüge eines Verfahrensmangels keine strengen Anforderungen zu stellen (Urteil des Bundesfinanzhofs IV 277/50 U vom 30. Mai 1951, Slg. Bd. 55 S. 353, BStBl 1951 III S. 138). In dem Urteil des Reichsfinanzhofs VI A 153/22 vom 13. Juli 1922 (Slg. Bd. 10 S. 79) ist ausgesprochen, daß ein Verfahrensmangel, insbesondere der Mangel ausreichenden Gehörs des Steuerpflichtigen, als gerügt gilt, wenn die Ausführungen der Rb. mit Sicherheit erkennen lassen, daß sich der Bf. als in der Wahrnehmung seiner Rechte infolge des Verfahrensmangels beeinträchtigt ansieht. Eine enge Auslegung der maßgebenden Bestimmungen würde, worauf das Urteil zutreffend hinweist, dem Grundgedanken der Verfahrensvorschriften der AO widersprechen, die es soweit als möglich vermeidet, die Rechte des Steuerpflichtigen an der Nichtbeachtung von Förmlichkeiten scheitern zu lassen. In übereinstimmung mit der angeführten Entscheidung genügt es, wenn die Rb. ein Vorbringen enthält, das an sich, um beachtet zu werden, vor dem Erlaß der Berufungsentscheidung geltend zu machen war, aber infolge eines Verfahrensmangels der Berufungsinstanz von dem Steuerpflichtigen nicht rechtzeitig geltend gemacht werden konnte. Diesen Anforderungen entspricht aber der Inhalt des Schreibens des Bf. vom 29. März 1956.

Die Sache geht an das Finanzgericht zurück. Dieses wird bei der erneuten Behandlung des Falles den Grundsatz des rechtlichen Gehörs des Steuerpflichtigen, insbesondere die Vorschrift des § 257 AO, zu beachten und auch das vom Bf. im Rechtsbeschwerdeverfahren zur Sache Vorgebrachte zu verwerten haben.

 

Fundstellen

BStBl III 1957, 81

BFHE 1957, 211

BFHE 64, 211

StRK, AO:257 R 1

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Steuer Office Excellence. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge