Leitsatz (amtlich)

§ 316 Abs. 2 AO in der Fassung des Gesetzes zur Änderung von einzelnen Vorschriften der Reichsabgabenordnung und anderer Gesetze vom 11. Juli 1953 (BGBl I S. 511) findet im Lande Schleswig-Holstein für Rechtstreitigkeiten in Grunderwerbsteuersachen erst vom 27. Juli 1955 ab Anwendung.

 

Normenkette

AO neuer Fassung § 3; AO neuer Fassung § 316 Abs. 2; schleswig-holsteinisches Gesetz über die Anwendung der Reichsabgabenordnung und anderer Abgabengesetze auf öffentlichrechtliche Abgaben, die der Gesetzgebung des Landes unterliegen, vom 15. Juli 1955 (BStBl 1955 II S. 129) § 1 Abs. 1 Nr. 1; schleswig-holsteinisches Gesetz über die Anwendung der Reichsabgabenordnung und anderer Abgabengesetze auf öffentlichrechtliche Abgaben, die der Gesetzgebung des Landes unterliegen, vom 15. Juli 1955 (BStBl 1955 II S. 129) § 3

 

Tatbestand

Streitig ist die Frage, ob die Vorschriften des § 316 Abs. 2 der Reichsabgabenordnung (AO) in der Fassung des Gesetzes zur Änderung von einzelnen Vorschriften der Reichsabgabenordnung und anderer Gesetze vom 11. Juli 1953 -- AOÄndG -- (Bundesgesetzblatt -- BGBl -- I S. 511) über die Erstattung von Vertreterkosten in Steuerprozessen im Lande Schleswig-Holstein schon von dem Inkrafttreten des AOÄndG -- dem 17. Juli 1953 -- ab auf Grunderwerbsteuerrechtsstreitigkeiten Anwendung finden oder erst von dem Tage ab, an dem das schleswig-holsteinische Gesetz über die Anwendung der Reichsabgabenordnung und anderer Abgabengesetze auf öffentlich-rechtliche Abgaben, die der Gesetzgebung des Landes unterliegen, vom 15. Juli 1955 (Bundessteuerblatt -- BStBl -- 1955 II S. 129, Gesetz- und Verordnungsblatt für Schleswig-Holstein 1955 S. 139) in Kraft getreten ist.

Die Beschwerdeführerin (Bfin.) war durch rechtskräftiges Urteil des Finanzgerichts Schleswig-Holstein in Kiel vom 24. Februar 1954 von einer angeforderten Grunderwerbsteuer freigestellt worden; die Kosten des Verfahrens wurden dem Lande auferlegt. Die Bfin. beantragte daraufhin, die ihr durch die Zuziehung eines Rechtsanwalts entstandenen Kosten in einem geltend gemachten Gesamtbetrage von 43,78 DM festzusetzen und zu erstatten. Die Geschäftsstelle und -- auf Erinnerung -- der Vorsteher des Finanzamts lehnten den Antrag ab. Die dagegen eingelegte Berufung wurde vom Finanzgericht als unbegründet zurückgewiesen.

Das Finanzgericht hat die Rechtsbeschwerde an den Bundesfinanzhof wegen grundsätzlicher Bedeutung der Streitsache ausdrücklich zugelassen.

 

Entscheidungsgründe

Der Rechtsbeschwerde muß der Erfolg versagt bleiben.

1. Zutreffend sind die Vorinstanzen von der eindeutigen Bestimmung des § 3 AO in der Fassung des AOÄndG -- § 3 AO n. F. -- ausgegangen, nach der die AO (in der neuen Fassung) nur für alle öffentlich-rechtlichen Abgaben gilt, die nach Art. 105 Abs. 1 und 2 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG) der Gesetzgebung des Bundes unterliegen und durch Bundes- oder durch Landesfinanzbehörden verwaltet werden. Nach Art. 105 Abs. 2 Nr. 1 GG sind von der Gesetzgebung des Bundes ausdrücklich ausgenommen die Steuern mit örtlich bedingtem Wirkungskreis, "insbesondere die Grunderwerbsteuer ...". Daraus folgt, daß die Vorschriften des § 316 Abs. 2 AO in der Fassung des AOÄndG -- § 316 Abs. 2 AO n. F. -- durch das AOÄndG nicht für das Grunderwerbsteuerrecht für anwendbar erklärt sind. Da das in § 3 AO n. F. angeführte GG im Art. 105 Abs. 2 Nr. 1 ausdrücklich die Grunderwerbsteuer als Steuer mit örtlich bedingtem Wirkungskreis kennzeichnet, kann es für die hier in Frage stehende Beurteilung demgegenüber keine Bedeutung haben, daß im § 76 Nr. 1 Satz 2 AO für Fälle der Fusion und der Anteilsvereinigung hinsichtlich der Zuständigkeit der Finanzämter eine Sonderregelung getroffen ist, die nicht auf die örtliche Lage der Grundstücke abstellt.

Die vorstehende dem Gesetzeswortlaut entsprechende Auslegung des § 3 AO n. F. wird durch die Entstehungsgeschichte der Vorschrift bestätigt, deren Berücksichtigung bei der Auslegung von Gesetzen insoweit zulässig ist, als sie die Auslegung nach dem Wortlaut bestätigt oder sonst nicht behebbare Zweifel beseitigt (vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 2 BvH 2/52 vom 21. Mai 1952, Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bd. 1 S. 299 ff., 312 und 1 BvO 2/52 vom 30. November 1955, Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bd. 4 S. 358 ff. 364). Nach der unsprünglichen Fassung der Regierungsvorlage zum AOÄndG sollte nach § 3 Abs. 1 des damaligen Entwurfs die AO für alle öffentlich-rechtlichen Abgaben gelten, die nach Art. 106 Abs. 1 bis 3 GG dem Bund, den Ländern oder den Gemeinden (Gemeindeverbänden) zufließen und durch Bundesfinanzbehörden oder durch Landesfinanzbehörden verwaltet werden (vgl. Bundestags-Drucksache 1. Wahlperiode 1949 Nr. 3926 Anlage 1 S. 2). Diese Formulierung, nach der die AO in der neuen Fassung auch für die nach Art. 106 Abs. 2 GG den Ländern zufließende Grunderwerbsteuer gegolten hätte, wurde schon in der Stellungnahme der Bundesregierung vom 3. Dezember 1952 zu Änderungsvorschlägen des Bundesrats aufgegeben und es wurde "im Interesse der Klarstellung" die später Gesetz gewordene Fassung vorgeschlagen, nach der die AO nur für alle öffentlich-rechtlichen Abgaben gelten sollte, die nach Art. 105 Abs. 1 und 2 der Gesetzgebung des Bundes unterliegen (vgl. die angeführte Bundestags-Drucksache Anlage 3 S. 10). Auch aus den späteren Beratungen des Bundestagsausschusses für Finanz- und Steuerfragen und der die Vorschläge dieses Ausschusses in zweiter und dritter Lesung bestätigenden Beschlußfassung des Bundestags ergibt sich, daß der Bundesgesetzgeber bewußt im § 3 AOÄndG n. F. den Geltungsbereich der AO -- entgegen dem ursprünglichen Regierungsentwurf -- auf die öffentlich-rechtlichen Abgaben beschränkt hat, die der Gesetzgebung des Bundes unterliegen und von Bundes- oder Länderfinanzbebehörden verwaltet werden -- vgl. dazu die Ausführungen des Bundestagsabgeordneten Dr. Miessner als Berichterstatter des genannten Ausschusses in der 257. Sitzung des Bundestags vom 25. März 1953, Verhandlungen des Deutschen Bundestags, 1. Wahlperiode, Stenographischer Bericht Bd.XV, 1953 S. 12 467 (B), ferner Beschlußfassung a. a. O. S. 12 473 (B) (C) --. Dabei bedarf es keiner näheren Erörterung, ob der Bundestag entgegen den damals geltend gemachten verfassungsrechtlichen Bedenken auf Grund des Art. 108 Abs. 3 Satz 2 GG berechtigt gewesen wäre, Verfahrens vorschriften der AO auch auf die materiell der Landesgesetzgebung unterliegenden Steuern zu erstrecken; denn der Gesetzgeber hat, wie die erwähnten Verhandlungen zeigen, bei dem Erlaß des AOÄndG bewußt davon abgesehen.

Danach entspricht es dem auch im Gesetzeswortlaut zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers, daß auch nach Inkrafttreten des AOÄndG der § 316 AO n. F. gemäß § 3 AO n. F. bis auf weitere gesetzliche Maßnahmen nicht für die Grunderwerbsteuer anwendbar war.

2. Allerdings bestimmt § 8a AO, der durch das AOÄndG nicht -- wie die vorangehenden §§ 4 bis 7 -- aufgehoben wurde, daß Vorschriften, aus denen sich ein weiterreichendes -- also über den § 3 AO n. F. -- hinausgehendes Anwendungsgebiet der AO ergibt, unberührt bleiben. Solche Vorschriften waren aber bis zum Inkrafttreten der sogenannten AO-Anpassungsgesetze der Länder (vgl. das o. a. schleswig-holsteinische Landesgesetz vom 15. Juli 1955) nicht in Geltung.

Der Senat hat erwogen, ob sich aus den §§ 21 Abs. 1, 23 Abs. 1 der nach wie vor in Kraft befindlichen Verordnung Nr. 175 über Wiedererrichtung von Finanzgerichten (Verordnungsblatt für die britische Zone 1948 S. 385) die unmittelbare Anwendbarkeit der Kostenerstattungsvorschrift des § 316 Abs. 2 AO n. F. auf finanzgerichtliche Streitigkeiten in Grunderwerbsteuersachen herleiten läßt. Er hat diese Frage verneint. Nach § 21 Abs. 1 der Verordnung Nr. 175 finden auf das Verfahren vor den Finanzgerichten die für das Berufungsverfahren maßgebenden Vorschriften der AO insoweit Anwendung, als die Verordnung Nr. 175 nichts Abweichendes bestimmt. Nach § 23 Abs. 1 beziehen sich die in der Verordnung Nr. 175 enthaltenen Verweisungen auf Vorschriften der AO auf die jeweils im Bereich der Verordnung Nr. 175 geltende Fassung der AO, soweit nichts anderes bestimmt ist. Man wird die Verweisungen auf die für das Berufungsverfahren geltenden Vorschriften der AO zwar nicht auf das "Berufungsverfahren" im Sinne der §§ 259 bis 298 AO beschränken können. Vielmehr ist davon auszugehen, daß der Gesetzgeber der Verordnung Nr. 175 grundsätzlich die Verweisung auf die allgemein für das Rechtsmittel verfahren geltenden Vorschriften des Dritten Abschnitts des Zweiten Teils der AO -- soweit nichts anderes bestimmt -- erstrecken wollte, die danach in der jeweils geltenden Fassung anwendbar sein sollten. Bei der Bestimmung des § 316 Abs. 2 AO n. F. handelt es sich jedoch entscheidend um eine materielle Vorschrift über den Umfang der Kostenerstattungpflicht, auf die sich die Verweisung auf die jeweils geltenden Verfahrens vorschriften nach Auffassung des Senats nicht beziehen kann.

3. Da sich nach den Ausführungen unter 1. die Neuregelung der AO durch das AOÄndG nicht auf die Grunderwerbsteuer erstreckte, galt die AO für die zur Landessteuer gewordene Grunderwerbsteuer (vgl. Boruttau-Klein, Kommentar zum Grunderwerbsteuergesetz, 4.Aufl., Vorbem. 3, Abs. 3) bis auf weiteres als Landesrecht in der alten Fassung weiter, soweit sie dem GG nicht widerspricht (Art. 123 Abs. 1 GG). Nach § 316 Satz 3 AO a. F. ist jedoch ein Anspruch auf Erstattung von Kosten, die durch Zuziehung eines Bevollmächtigten oder Beistands entstanden sind, ausdrücklich ausgeschlossen.

Die Bestimmung des § 316 AO a. F. widerspricht nicht dem GG und war daher für die Grunderwerbsteuer weiter anwendbar. Zwar entspricht die Erstattung der Vertreterkosten an den in einem Steuerprozeß obsiegenden Steuerpflichtigen einer rechtsstaatlichen Forderung. Es handelt sich bei der Frage der Kostenerstattung aber nicht um ein durch das GG selbst gewährleistetes Grundrecht. Vielmehr bedarf die Verwirklichung der rechtsstaatlichen Forderung erst entsprechender Gesetzgebungsakte, die für den Bereich der der Gesetzgebung der Länder unterliegenden Steuern nicht schon durch das AOÄndG des Bundes, sondern erst durch die sogenannten AO-Anpassungsgesetze der Länder vorgenommen sind.

4. Das schleswig-holsteinische Landesgesetz vom 15. Juli 1955 bestimmt in seinem § 1 Abs. 1 Nr. 1, daß die AO sinngemäß in der Fassung, die für die bundesrechtlich geregelten Steuern jeweils gilt, auch auf öffentlich-rechtliche Abgaben anwendbar ist, die der Gesetzgebung des Bundes nicht unterliegen und durch Landesfinanzbehörden verwaltet werden. Das Gesetz ist nach seinem § 3 am Tage nach seiner am 26. Juli 1955 erfolgten Verkündung im Gesetz- und Verordnungsblatt für Schleswig-Holstein, also am 27. Juli 1955, in Kraft getreten. Da das die Bfin. von den Kosten freistellende Urteil des Finanzgerichts vom 24. Februar 1954 lange vor diesem Zeitpunkt rechtskräftig geworden ist, kann eine Erstattung der Vertreterkosten auf Grund des erst ab 27. Juli 1955 für den Bereich der Grunderwerbsteuer in Schleswig-Holstein anwendbaren § 316 AO n. F. nicht erfolgen (vgl. dazu Urteil des erkennenden Senats II 128/55 S vom 23. Februar 1956, Slg. Bd. 62 S. 316 ff., 320, 1956 III S. 117).

5. Da das schleswig-holsteinische Landesgesetz vom 15. Juli 1955 -- in Abweichung von dem ähnlichen Gesetz der Freien und Hansestadt Hamburg über die Ausdehnung des Geltungsbereichs der Reichsabgabenordnung und anderer Abgabengesetze vom 13. Juni 1955 (BStBl 1955 II S. 95, Hamburgisches Gesetz- und Verordnungsblatt 1955 S. 210) -- sich hinsichtlich der Anwendbarkeit der bundesrechtlichen Fassung der AO keine Rückwirkung beigelegt hat, ist der Senat nicht berechtigt, die Vorschrift des § 316 Abs. 2 AO n. F. im Streitfall mit Rückwirkung zur Anwendung zu bringen. Die Gerichte sind nicht befugt, an Stelle des Gesetzgebers eine von diesem nicht bestimmte Rückwirkung zuzulassen, zumal sie dadurch die Grenzen überschreiten würden, die ihnen durch den verfassungsmäßigen Grundsatz der Gewaltenteilung gesetzt sind (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs I 34/53 S vom 9. Juni 1953, Slg. Bd. 57 S. 654 ff., 657, BStBl 1953 III S. 250). Aus ähnlichen Erwägungen kommt auch eine entsprechende Anwendung der Vorschrift des § 316 Abs. 2 AO n. F. auf die Landessteuern für die Zeit zwischen dem Inkrafttreten des AOÄndG und der Länder-AO-Anpassungsgesetze nicht in Betracht. Die rechtsschöpferische Ausfüllung von Lücken in Gesetzen und die entsprechende Anwendung von Bestimmungen, insbesondere auf der Grundlage richtungweisender Generalklauseln gehört zwar von jeher zu den richterlichen Aufgaben (vgl. dazu Urteil des Bundesverfassungsgerichts 1 BvL 106/53 vom 18. Dezember 1953, Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bd. 3 S. 225 ff., 243). Niemals dürfen dabei aber die Gerichte gegen den eindeutig erklärten Willen des Gesetzgebers verstoßen. Sowohl aus der durch die Entstehungsgeschichte bestätigten Fassung des § 3 AO n. F. wie auch aus den §§ 1, 3 des maßgebenden schleswig-holsteinischen Landesgesetzes vom 15. Juli 1955 ergibt sich der übereinstimmende Wille des Bundes- und des Landesgesetzgebers, daß die Vorschrift des § 316 Abs. 2 AO n. F. in der im Streitfall maßgebenden Übergangszeit für die Grunderwerbsteuer nicht anwendbar war.

6. Fehl geht der Hinweis des Vertreters der Bfin., daß das Land Schleswig-Holstein nach Art. 1 der Satzung des Landes (Gesetz- und Verordnungsblatt für Schleswig-Holstein 1950 S. 3) nur ein "Glied" der Bundesrepublik sei und daß deshalb Bundesgesetze, die einer "geläuterten Rechtsauffassung" entspringen, auch für das Land Schleswig-Holstein Geltung haben müßten, "soweit das Land ... von seiner Gesetzgebungskompetenz nicht ausdrücklich Gebrauch machen will".

Bundesgesetze können in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland nur soweit Geltung haben, als der Bund auf Grund eines ihm zustehenden Gesetzgebungsrechts auch für die Länder geltende Gesetze erläßt. Der Bundesgesetzgeber hat nach den vorstehenden Ausführungen unter 1. bewußt das AOÄndG nicht auf die Landessteuern erstreckt. Überdies hat das Land Schleswig-Holstein von seinem Gesetzgebungsrecht inzwischen Gebrauch gemacht, allerdings ohne den § 316 AO n. F. mit Rückwirkung für anwendbar zu erklären, worauf es im Streitfall entscheidend ankommt.

7. Da der erkennende Senat an die geltenden Gesetze gebunden ist, kann es für die Entscheidung nicht maßgebend sein, ob -- vom Standpunkte einer in solchen Fragen wünschenswerten Rechtseinheit in der Bundesrepublik aus gesehen -- das gefundene Ergebnis befriedigt oder nicht.

Nach alledem war die Rechtsbeschwerde mit der Kostenfolge aus § 307 AO als unbegründet zurückzuweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 408701

BStBl III 1957, 152

BFHE 1957, 408

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Steuer Office Excellence. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge