Entscheidungsstichwort (Thema)

Zum ,,nachträglichen Bekanntwerden" einer Tatsache

 

Leitsatz (NV)

Bei der Beurteilung der Frage, ob bestandskräftige Steuerbescheide wegen nachträglichen Bekanntwerdens von Tatsachen nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 geändert werden dürfen, kommt es grundsätzlich auf den Kenntnisstand der Personen an, die innerhalb der Finanzbehörde dazu berufen sind, den betreffenden Steuerfall zu bearbeiten. Kennt eine andere als die für die Bearbeitung des Steuerfalls zuständige Dienststelle die betreffende Tatsache, so ist diese Tatsache deswegen nicht auch der zuständigen Dienststelle als bekannt zuzurechnen, auch wenn die einzelnen Dienststellen je nach ihrem Aufgabenbereich verpflichtet sind, zusammenzuwirken und Erfahrungen auszutauschen (Anschluß an Urteil des BFH vom 20. Juni 1985 IV R 114/82, BFHE 143, 520, BStBl II 1985, 492, m. w. N.).

 

Normenkette

AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 1

 

Verfahrensgang

FG Rheinland-Pfalz

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) bezog in den Streitjahren Einkünfte aus Kapitalvermögen aus seinem Wertpapierbesitz und Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung aus seinem Grundbesitz. Auch seine Frau bezog Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung aus ihr gehörigem Hausbesitz. Am 29. Dezember 1975 haben die Ehegatten einen Arbeitsvertrag geschlossen, wonach die Ehefrau ,,ab 1. Januar 1976 in der von ihrem Mann ausgeübten Verwaltungstätigkeit der Mietshäuser und der Effekten tätig wird" und sich verpflichtet, bei regelmäßiger monatlicher Arbeitszeit und einem Bruttomonatsgehalt von 315 DM insbesondere folgende Tätigkeiten zu verrichten: Aussortieren und Kontrollieren der Belege, Ablegen, Addieren der Konten, Einweisung in die Buchungspraxis, Mithilfe bei den Abrechnungen der Heiz- und Nebenkosten.

Das Finanzamt (FA) hatte für die Jahre 1976 bis 1980 das Arbeitsverhältnis offenbar nicht beanstandet, obgleich für diese Zeitspanne eine (erste) Außenprüfung beim Kläger stattgefunden hatte.

Im Anschluß an eine weitere Außenprüfung ließ das FA in Änderungsbescheiden betreffend 1981 bis 1983 und im Erstbescheid für 1984 die als Werbungskosten anteilig bei den Einkünften aus Kapitalvermögen und aus Vermietung und Verpachtung berücksichtigten Gehaltszahlungen nicht mehr zum Abzug zu, weil die Ehefrau des Klägers familienrechtlich zu ihrer Tätigkeit verpflichtet sei. Hinzu komme, daß der Kläger seiner Frau ,,Arbeitslohn" auch für die ,,Mithilfe" für die Verwaltung deren eigenen Grundbesitzes gezahlt habe, was unter fremden Dritten völlig unverständlich sei.

Der Einspruch blieb erfolglos.

Auf die Klage wies das Finanzgericht (FG) unter teilweiser Aufhebung der Einkommensteuerbescheide 1981 bis 1984 sowie der Einspruchsentscheidung vom 4. April 1986 das FA an, die Lohnzahlungen als Werbungskosten anzuerkennen. Es vertrat die Auffassung, daß das Bestehen des Arbeitsverhältnisses als dem FA bereits bei Erlaß der Erstbescheide bekannte Tatsache (§ 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung - AO 1977 -) angesehen werden müsse. Es begründete dies damit, daß ,,bereits dem Vorprüfer das Bestehen des Ehegatten-Arbeitsvertrages und die Zahlung von Arbeitslöhnen seitens des Klägers an seine Frau bekannt" gewesen sei. Die Verpflichtung des Prüfers i. S. des § 88 AO 1977 wäre es gewesen, den näheren Umständen nachzugehen. Er hätte dann insbesondere festgestellt, daß bereits von Anfang an, d. h. schon 1976, der Kläger Arbeitslöhne an seine Frau für die Verwaltung an deren eigenem Grundbesitz bezahlt hat. Hätte, so führt das FG weiter aus, der Vorprüfer das festgestellt und darüber pflichtgemäß berichtet, wären dem Beklagten in den Streitjahren die wesentlichen, zur Verneinung der Anerkennung des Ehegatten-Arbeitsverhältnisses führende Umstände bekannt gewesen. Den Verstoß der Vorprüfung gegen § 88 AO 1977 müsse sich das FA auch zurechnen lassen. Denn es bediene sich der Außenprüfung zu der ihm obliegenden Erforschung der besteuerungserheblichen Verhältnisse (§§ 85, 194 Abs. 1 Satz 1, § 199 Abs. 1 AO 1977). Das habe nichts mit dem ganz anderen Grundsatz zu tun, daß die Kenntnisse des Außenprüfers im allgemeinen nicht dazu führen könnten, daß auch dem FA diese Tatsachen bekannt seien.

Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt das FA die rechtsfehlerhafte Anwendung des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) sei dem Veranlagungsbeamten das Wissen eines Außenprüfers grundsätzlich nicht zuzurechnen. Anhaltspunkte, die es für den Veranlagungsbeamten als naheliegend hätten erscheinen lassen müssen, über Inhalt und Durchführung des Ehegatten-Arbeitsverhältnisses weitere Ermittlungen anzustellen, seien bei Erlaß der Erstbescheide nicht erkennbar gewesen. Die gelegentlich der zweiten Prüfung gewonnenen Erkenntnisse seien mithin geeignet, die Änderungen der Erstbescheide zu rechtfertigen.

Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben, und die Klage abzuweisen.

Der Kläger hat sich im Revisionsverfahren nicht durch einen Prozeßbevollmächtigten vertreten lassen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Rechtssache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

Das FG hat seine Entscheidung zu Unrecht nur auf das Nichtvorliegen der Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 gestützt und dementsprechend die materiell-rechtliche Prüfung der steuerlichen Ordnungsmäßigkeit des Ehegatten-Arbeitsverhältnisses unterlassen. Der Senat kann diese Prüfung von sich aus mangels hinreichender tatsächlicher Feststellungen nicht vornehmen.

Bezüglich des Streitjahres 1984 kommt es auf die Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 schon deshalb nicht an, weil für dieses Jahr ein Änderungsbescheid aufgrund der genannten Vorschrift nicht ergangen ist. Vielmehr wurde am 30. April 1985, nachdem dem FA der Prüfungsbericht vom 15. Februar 1985 bereits vorlag, der erstmalige Eingabewertbogen für den Veranlagungszeitraum 1984 vom zuständigen Sachgebietsleiter gezeichnet. Der erstmalige Einkommensteuerbescheid für 1984 datiert vom 13. Juni 1985. Dieser in der Einspruchsentscheidung zugunsten des Klägers geänderte Einkommensteuerbescheid, nicht aber ein Änderungsbescheid gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977, ist Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits.

Bezüglich der Jahre 1981 bis 1983 ist das FG unzutreffenderweise davon ausgegangen, daß diese Bescheide schon mangels der Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 nicht hätten geändert werden dürfen. Wie der BFH wiederholt entschieden hat, kommt es bei der Beurteilung der Frage, ob bestandskräftige Steuerbescheide wegen nachträglichen Bekanntwerdens von Tatsachen nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 geändert werden dürfen, grundsätzlich auf den Kenntnisstand der Personen an, die innerhalb der Finanzbehörde dazu berufen sind, den betreffenden Steuerfall zu bearbeiten. Kennt eine andere als die für die Bearbeitung des Steuerfalls zuständige Dienststelle die betreffende Tatsache, so ist diese Tatsache deswegen nicht auch der zuständigen Dienststelle als bekannt zuzurechnen, auch wenn die einzelnen Dienststellen je nach ihrem Aufgabenbereich verpflichtet sind, zusammenzuwirken und Erfahrungen auszutauschen (vgl. Urteil des BFH vom 20. Juni 1985 IV R 114/82, BFHE 143, 520, BStBl II 1985, 492, m. w. N.). Feststellungen darüber, daß der Veranlagungsbeamte durch die Prüfer der zurückliegenden Außenprüfung Kenntnisse über Inhalt und Durchführungsform des Ehegatten-Arbeitsverhältnisses erlangt hatte, sind im FG-Urteil nicht enthalten.

Das FA hat dem Arbeitsverhältnis insbesondere deshalb die steuerliche Anerkennung versagt, weil das Entgelt an die Ehefrau zum Teil auch für die Verwaltung deren eigener Häuser gezahlt worden sei. Das FG ist offenbar von diesem Sachverhalt ausgegangen, ohne daß es aus seiner Sicht Veranlassung hatte, hierzu ins einzelne gehende Feststellungen zu treffen. Der Senat sieht sich aufgrund des vom FG festgestellten, nur geringen Tatsachenmaterials nicht in der Lage, die steuerliche Beurteilung des zwischen dem Kläger und seiner Ehefrau geschlossenen Vertrages vorzunehmen. Der Inhalt des Arbeitsvertrages ist nur auszugsweise festgestellt. Über dessen tatsächliche Durchführung, inbesondere über das Ausmaß der im Eigeninteresse der Ehefrau des Klägers ausgeführten Arbeiten im Verhältnis zum gesamten Arbeitsvolumen ist nichts erkennbar. Das FG wird - sofern der Vertrag im übrigen die Kriterien einer steuerlich anzuerkennenden Ehegatten-Arbeitsvereinbarung enthält (vgl. Beschluß des Großen Senats vom 27. November 1989 GrS 1/88, BFHE 158, 563, BStBl II 1990, 160 m. w. N.) - die rechtliche Prüfung vorzunehmen haben, ob nach dem Umfang der von der Ehefrau im eigenen Interesse geleisteten Arbeiten die steuerliche Nichtanerkennung des gesamten Vertrages gerechtfertigt erscheint.

 

Fundstellen

Haufe-Index 417174

BFH/NV 1991, 353

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