Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Die Entscheidung über die Nachsicht wird grundsätzlich als Teil der Rechtsmittelentscheidung selbst getroffen; jedoch ist eine vorweggenommene stillschweigende Nachsichtgewährung möglich. Diese liegt aber nicht allein schon darin, daß das Finanzamt in sachliche Ermittlungen eintritt.

 

Normenkette

AO §§ 86-87

 

Tatbestand

Der Bf. ist für das Jahr 1950 seinen Angaben entsprechend veranlagt worden. Der Bescheid vom 5. April 1952 ist rechtskräftig. Strittig ist, ob dem Bf. wegen der Versäumung der Rechtsmittelfrist Nachsicht zu gewähren ist.

Mit Schreiben vom 2. Dezember 1952 stellte der Bf. erstmals den Antrag, den Verlust, der ihm aus der Enteignung seines in der sowj. Zone gelegenen Betriebs entstanden sei, bei der Veranlagung für das Jahr 1950 zu berücksichtigen. Er berief sich auf Billigkeitsgründe und insbesondere darauf, daß er erst jetzt mit Sicherheit erfahren habe, daß sein Betrieb am 7. Dezember 1949 enteignet worden sei. Das Finanzamt stellte zur Nachprüfung der Angaben Ermittlungen an. Als der Bf. mit Schreiben vom 12. August 1955 an die Erledigung seines Antrags erinnerte und unter Hinweis darauf, daß ihm der Nachweis der Enteignung erst im Dezember 1952 möglich gewesen sei, nochmals um Berücksichtigung des Verlustes als Sonderausgabe für das Jahr 1950 bat, teilte ihm das Finanzamt mit, daß dies spätestens nach dem Empfang des Steuerbescheids innerhalb der Rechtsmittelfrist hätte geltend gemacht werden müssen und daß Gründe für eine Nachsichtgewährung nicht vorlägen. Die Beschwerde des Bf. wurde vom Finanzamt als Einspruch behandelt und als unzulässig verworfen, weil das Schreiben vom 2. Dezember 1952 verspätet eingegangen und kein Grund für Nachsichtgewährung gegeben sei. Die Berufung hatte keinen Erfolg.

Mit seiner Rb. wehrt sich der Bf. gegen die Ablehnung seines Nachsichtantrages. Es sei, so macht er geltend, zu Unrecht angenommen worden, daß er die Berücksichtigung des Verlustes schon innerhalb der Rechtsmittelfrist habe beantragen können. Wenn er mit dem Antrag gewartet habe, bis ihm die Möglichkeit eines einwandfreien Nachweises gegeben gewesen sei, so könne ihm daraus kein Vorwurf gemacht werden. Er habe im Gegenteil nur sehr sorgfältig und gewissenhaft gehandelt. Vor allem aber habe das Finanzgericht übersehen, daß ihm Nachsicht schon gewährt gewesen sei, ganz abgesehen davon, daß es gegen Treu und Glauben verstoße, wenn ihm erst nach etwa drei Jahren mitgeteilt werde, daß die Bearbeitung seines Einspruchs wegen Versäumung der Rechtsmittelfrist abgelehnt werde.

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. ist nicht begründet.

Rein verfahrensmäßig ist zunächst festzustellen, daß gegen die formelle Behandlung des Nachsichtsantrags und der Beschwerde des Bf. durch das Finanzamt keine Bedenken bestehen. Die Frage der Nachsichtgewährung ist nicht Gegenstand einer gesonderten Prüfung in einem neben dem Einspruchsverfahren laufenden Verfahren. über die Frage ist vielmehr im Zusammenhang mit der Prüfung des (nachgeholten) Rechtsmittels selbst durch die Rechtsmittelbehörde zu entscheiden (vgl. § 87 AO). Es ist also richtig, wenn über den nachträglichen Antrag durch Einspruchsentscheidung entschieden worden ist.

Wenn das Finanzgericht angenommen hat, daß dem Bf. von vornherein keine Nachsicht gewährt werden könne, weil zwischen dem Ende der Rechtsmittelfrist und der Einlegung des Rechtsmittels mehr als ein Jahr verstrichen sei, so ist der Senat zwar entgegen der Ansicht des Finanzgerichts der Auffassung, daß nicht erst das Schreiben vom 22. Oktober 1955, sondern bereits das Schreiben vom 2. Dezember 1952 als Rechtsmitteleinlegung anzusehen ist, geht doch schon aus diesem Schreiben hervor, daß der Bf., wenn er auch von Billigkeitsgründen spricht, mit der Nichtberücksichtigung des Verlustes bei der Veranlagung für das Jahr 1950 nicht einverstanden gewesen ist (vgl. § 249 Abs. 2 AO). Wie das Finanzgericht ohne Rechtsirrtum ausgeführt hat, ist aber im Streitfall kein Grund für eine Nachsichtgewährung gegeben.

Dem Bf. ist Nachsicht zu gewähren, wenn er ohne sein Verschulden an der Einhaltung der Rechtsmittelfrist gehindert gewesen ist (vgl. § 86 AO). Läßt ein Steuerpflichtiger die (ihm bekannte) Rechtsmittelfrist bewußt verstreichen, so kann in der Regel nicht von einer Verhinderung an der Wahrnehmung der Rechtsmittelfrist gesprochen werden. Nach ständiger Rechtsprechung ist insbesondere ein Irrtum des Steuerpflichtigen, der sich nicht auf die Frist als solche, sondern auf die Richtigkeit des (anzufechtenden) Bescheids bezieht, kein Hinderungsgrund im vorerwähnten Sinne. Für den Streitfall ist mit dem Finanzgericht festzustellen, daß der Bf., auch wenn ihm die Enteignung seines Betriebs nicht als endgültige Tatsache oder, wie er sagt, mit aller Sicherheit bekannt gewesen ist, den Verlust zum mindesten vorsorglich hätte geltend machen können und müssen. Wenn der Bf. sich darauf beruft, daß er nichts Ungewisses habe geltend machen wollen und daß er im Grunde besonders sorgfältig gehandelt habe, so kann doch nicht daran vorbeigegangen werden, daß einerseits die Frage der Enteignung, selbst wenn der Bf. immer noch auf einen guten Ausgang gehofft haben sollte, im Jahr 1952, um das es hier geht, nach den allgemeinen Erfahrungen nicht mehr als nur eine vage Möglichkeit angesehen werden konnte und andererseits die Bedeutung der Rechtskraft auch dem Bf. bekannt war oder doch bekannt sein mußte. Abgesehen davon, daß er ohnehin durch einen Vertreter der steuerberatenden Berufe beraten worden ist, kann sich der Bf. in dieser Hinsicht auch nicht auf Unerfahrenheit berufen, weil er als Färbereibesitzer mitten im Erwerbsleben steht und bei den Anforderungen, die dieses stellt, auch ohne Rechtskenntnisse weiß oder wissen muß, daß er einen Steuerbescheid, mit dem er nicht einverstanden ist, nicht rechtskräftig werden lassen darf.

Das Finanzgericht ist zwar, wie der Bf. rügt, nicht auf seinen Einwand eingegangen, daß die Ablehnung der Nachsichtgewährung durch die Einspruchsentscheidung des Finanzamts schon deswegen unzulässig gewesen sei, weil das Finanzamt ihm durch die Aufnahme der seinem Antrag entsprechenden tatsächlichen Ermittlungen stillschweigend Nachsicht gewährt habe. Offenbar erklärt sich dieses Vorgehen des Finanzgerichts von seinem Standpunkt aus, daß erst das Schreiben vom 22. Oktober 1955 als Rechtsmitteleinlegung anzusehen sei. Das Urteil des Finanzgerichts ist aber gleichwohl nicht aufzuheben, weil der Einwand des Bf. weder nach dem Akteninhalt noch nach seinem Vorbringen begründet ist. Wie bereits ausgeführt, ist die Nachsichtgewährung Teil der Rechtsmittelentscheidung. Daß über die Nachsichtgewährung grundsätzlich in der Rechtsmittelentscheidung selbst entschieden wird, schließt zwar nicht aus, daß die Frage der Nachsichtgewährung - wie insbesondere zweckmäßigerweise dort, wo für die sachliche Entscheidung umfangreiche Ermittlungen erforderlich sind - vorweg geprüft und, sei es durch ausdrückliche Bewilligung, sei es stillschweigend, entschieden wird (vgl. Becker, Reichsabgabenordnung, 7. Auflage, 1930, Bemerkung 6 zu § 69, S. 210). Es kann aber entgegen der Auffassung des Bf. nicht schlechthin jedes Eintreten der Rechtsmittelbehörde in sachliche Ermittlungen als stillschweigende Nachsichtgewährung angesehen werden, ist es doch durchaus möglich, daß die Rechtsmittelbehörde die Frage der Nachsichtgewährung zunächst dahingestellt sein lassen wollte (vgl. hierzu das Urteil des Bundesfinanzhofs IV 572/56 U vom 30. Januar 1958, BStBl 1958 III S. 352, Slg. Bd. 67 S. 207) oder, was auch der Steuerpflichtige in Rechnung stellen muß, versehentlich zunächst nicht prüfte. Daß die Entscheidung in der Sache selbst, auch wenn die Frage der Nachsichtgewährung offenbar versehentlich nicht geprüft worden ist, nach ständiger Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs als stillschweigende Nachsichtgewährung gewertet wird, beruht darauf, daß es sich bei der Nachsichtgewährung um eine Verfahrensfrage handelt, die nur auf entsprechende Rüge hin nachgeprüft wird (vgl. Becker, a. a. O., Bemerkung 8 zu § 69, S. 210). Hieraus kann aber nicht gefolgert werden, daß auch das Eintreten in sachliche Ermittlungen ohne weiteres als stillschweigende Nachsichtgewährung gewertet werden müsse. Um in dem Eintreten in sachliche Ermittlungen eine stillschweigende Nachsichtgewährung zu sehen, müssen vielmehr Umstände hinzukommen, die auf einen entsprechenden Willen der Rechtsmittelbehörde schließen lassen. Solche Umstände sind - ganz abgesehen davon, daß Handlungen des Finanzamts nicht ohne weiteres als Handlungen des Steuerausschusses gewertet werden können - im Streitfall um so weniger dargetan, als das Schreiben vom 2. Dezember 1952, wie das Finanzamt mit Recht hervorhebt, nicht bloß die Veranlagung für das Jahr 1950, sondern auch die Veranlagung für das Jahr 1951 betraf, für die die Frage der Nachsichtgewährung überhaupt nicht zu prüfen war. Kann hier danach in dem Eintreten des Finanzamts in sachliche Ermittlungen keine stillschweigende Nachsichtgewährung gesehen werden, so wird hieran auch dadurch nichts geändert, daß das Finanzamt dem Bf. erst auf seine Erinnerung vom 12. August 1955 mitgeteilt hat, daß der Antrag auf Berücksichtigung des Verlustes bei der Veranlagung für das Jahr 1950 hätte gestellt werden müssen, bevor diese Veranlagung rechtskräftig geworden sei, und daß die Voraussetzungen für eine Nachsichtgewährung nicht vorlägen. Der Bf. irrt, wenn er meint, daß die Frage der Nachsichtgewährung nach Ablauf einer gewissen Frist nur noch in einem dem Rechtsmittelführer günstigen Sinne entschieden werden könne. Der Ablauf einer gewissen Frist ist für sich allein auch kein Umstand, der zur Annahme einer stillschweigenden Nachsichtgewährung berechtigte. Ob die Grundsätze von Treu und Glauben, auf die sich der Bf. in diesem Zusammenhang beruft, im Einzelfall zu einer anderen Beurteilung führen können, kann hier dahingestellt bleiben. Der vorliegende Sachverhalt bietet keinerlei Anhaltspunkte für die Annahme, daß die Grundsätze von Treu und Glauben verletzt seien. Sich um den Fortgang des Rechtsmittelverfahrens zu kümmern, war nicht zuletzt auch Sache des Bf. selbst. Der Bf. ist auch dadurch, daß er erst im Jahr 1955 auf die Frage der Nachsichtgewährung hingewiesen worden ist, in keiner Weise beeinträchtigt worden. Bei den Gründen, die der Bf. für die Nachsichtgewährung geltend macht, ist keine Rede davon, daß ihm deren Darlegung oder Nachweis allein um des (angeblich vom Finanzamt zu vertretenden) Zeitablaufs willen erschwert worden sei.

 

Fundstellen

Haufe-Index 409636

BStBl III 1960, 216

BFHE 1960, 582

BFHE 70, 582

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