Entscheidungsstichwort (Thema)

erweiterter Rechtsweg nach Art. 19 Abs. 4 GG

 

Leitsatz (amtlich)

Gegen Entscheidungen der Oberfinanzdirektion über Anträge auf Erlaß einer im Verwaltungsstrafverfahren erkannten Geldstrafe ist bei behaupteter Ermessensverletzung der erweiterte Rechtsweg nach Art. 19 Abs. 4 GG gegeben.

 

Normenkette

GG Art. 19 Abs. 4; AO §§ 477, 258

 

Tatbestand

Der Beschwerdeführer (Bf.), der sich wegen eines fortgesetzten Vergehens der Umsatzsteuerhinterziehung, ferner wegen fortgesetzter Einkommensteuerhinterziehung in Tateinheit mit fortgesetzer Gewerbesteuerhinterziehung und fortgesetzter Hinterziehung von Abgabebeträgen der Abgabe "Notopfer Berlin", begangen in der Zeit vom 21. Juni 1948 bis 30. Juni 1950, einer auf 2 000 DM festgesetzten Geldstrafe unterworfen hatte, war mit der Zahlung der Strafe im Rückstand geblieben.

Nachdem die in der Unterwerfungsverhandlung selbst gestellte Zahlungsfrist verschiedentlich, und zwar zunächst bis 1. Mai 1952, späterhin bis 30. September 1952 verlängert worden war, stellte der Bf. kurz vor Ablauf der letztgenannten Frist einen Antrag auf gnadenweisen Erlaß der festgesetzten Geldstrafe.

Finanzamt und Oberfinanzdirektion lehnten übereinstimmend den begehrten Straferlaß ab.

Auch die Anrufung des Finanzgerichts, welches zwar ein Berufungsverfahren gegen die ablehnenden Gnadenentscheidungen der Verwaltungsbehörden als zulässig, die Berufung selbst im Streitfalle aber als unbegründet ansah, führte zu keinem Erfolg.

Nachdem der Bf. gegen die Entscheidung des Finanzgerichts Rechtsbeschwerde erhoben hatte, trat das Straffreiheitsgesetz 1954 vom 17. Juli 1954 (Bundesgesetzblatt 1954 I S. 203) in Kraft. Auf Grund dieses Gesetzes wurde die inzwischen auf Antrag des Finanzamts in eine Gefängnisstrafe von 20 Tagen umgewandelte Geldstrafe durch Beschluß des Amtsgerichts ...... vom 10. Februar 1955 erlassen.

Damit hat sich das Rechtsmittel in der Hauptsache erledigt. Es ist daher nur noch über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden, und zwar so, wie zu erkennen wäre, wenn das Rechtsmittel nicht erledigt wäre, d. h. das Rechtsmittel muß -- in der Regel -- wegen der Kostenentscheidung trotz Erledigung in der Hauptsache noch sachlich geprüft werden (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs IV 27/52 U vom 17. April 1952, Slg. Bd. 56 S. 389, Bundessteuerblatt -- BStBl. -- 1952 III S. 152; II 171/52 U vom 17. Februar 1954, Slg. Bd. 58 S. 580, 582, BStBl. 1954 III S. 131). Diese Prüfung kann sich wegen ihres Zweckes auf die Gesichtspunkte beschränken, die für die Kostenentscheidung maßgebend sind.

Die Kosten des Rechtsmittels wären gemäß § 307 der Reichsabgabenordnung (AO) dem Steuerpflichtigen ganz aufzuerlegen, wenn er bei einer Entscheidung in der Hauptsache unterlegen wäre. Wenn er zum Teil unterlegen wäre, so können ihm nach § 307 Abs. 1 Satz 2 AO die Kosten zum Teil, insbesondere seine eigenen Kosten, auferlegt werden: Diese Vorschrift hält der Senat im vorliegenden Fall für anwendbar.

 

Entscheidungsgründe

Was zunächst die vom Finanzamt bezweifelte Zulässigkeit des Berufungsverfahrens in sogenannten Gnadensachen anlangt, so sieht der Senat keine Veranlassung, von der Entscheidung des IV. Senats -- IV 187/52 U -- vom 21. August 1952 -- Slg. Bd. 56 S. 797, BStBl. 1952 III S. 306 -- abzuweichen, die ein solches Verfahren grundsätzlich für zulässig erklärt hat.

In der Sache selbst hätte das Rechtsmittel zur Aufhebung der Vorentscheidung geführt, weil die Verwaltungsinstanzen den Straferlaß abgelehnt haben, ohne auf die im Erlaßantrag vorgebrachten Gründe des Bf. einzugehen. Ein solches Verhalten hätte im Streitfalle schon deshalb als Ermessensverletzung betrachtet werden müssen, weil bereits die von der Oberfinanzdirektion selbst erkannten und in der Genehmigungsverfügung vom 20. Januar 1951 gerügten, aber nicht abgestellten Mängel des Unterwerfungsverfahrens Veranlassung zu einer Nachprüfung der Straffestsetzung im Verfahren über den Erlaßantrag hätten geben müssen, abgesehen davon, daß die Möglichkeit eines Straferlasses, von der anläßlich der Unterwerfungsverhandlung zum mindesten gesprochen worden ist, auch im Hinblick auf die vom Bf. geschilderte materielle Notlage zu prüfen gewesen wäre.

Bei Würdigung aller Umstände wäre nach Ansicht des Senats ein teilweiser Straferlaß zu erwarten gewesen. Andererseits kann der Bf. als persönlich haftender Gesellschafter der früheren OHG sich der strafrechtlichen Mitverantwortung an den vorgekommenen Hinterziehungshandlungen nicht völlig entziehen und die alleinige Verantwortung an den Verfehlungen seinem Teilhaber zuschieben. Die vorgetragenen Umstände hätten somit im Endergebnis nicht zu einem vollen Erfolg des Antrags auf Straferlaß geführt.

Der Senat ist demnach, von der Vorentscheidung abweichend, der Auffassung, daß der Bf. in der Hauptsache im Endergebnis nicht in vollem Umfang unterlegen wäre, sondern daß sein Rechtsmittel teilweise Erfolg gehabt hätte. Es erscheint angezeigt, dem Bf. gemäß § 307 Abs. 1 Satz 2 AO die eigenen Kosten aufzuerlegen. Die übrigen Kosten hat gemäß § 309 AO das Land zu tragen.

Es ist mündliche Verhandlung beantragt. Zwar ist nicht ohne weiteres ersichtlich, ob der Antrag nach Erledigung des Verfahrens in der Hauptsache noch aufrechterhalten wird. Da der Antrag aber nicht ausdrücklich zurückgenommen ist, hat es der Senat für zweckmäßig gehalten, zunächst gemäß § 294 Abs. 2 AO einen Vorbescheid zu erlassen.

Wegen des Sachverhalts und des Streitgegenstandes wird auf den Vorbescheid verwiesen. Gegen diesen hat die Oberfinanzdirektion die Anberaumung der mündlichen Verhandlung beantragt.

In der mündlichen Verhandlung hat der Vertreter der Oberfinanzdirektion zunächst vorgetragen, die Berufung gegen die den Erlaßantrag ablehnende Verfügung der Oberfinanzdirektion hätte wegen Versäumung der Rechtsmittelfrist als unzulässig zurückgewiesen werden müssen, wenn man die Zulässigkeit des Rechtsbehelfs unterstelle. Vor allem aber hat der Vertreter der Oberfinanzdirektion unter eingehender Darstellung von Schrifttum und Rechtsprechung ausgeführt, der Rechtsweg sei unzulässig, weil es sich bei der Verfügung der Oberfinanzdirektion um einen sogenannten justizfreien Hoheitsakt handle. Durch Verweigerung eines Gnadenerweises könne der Verurteilte in seinen Rechten nicht verletzt werden, weil es kein Recht auf Gnade gebe. Deshalb liege die wesentliche Voraussetzung des Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG) für die Eröffnung des Rechtswegs nicht vor, daß der Verurteilte in seinen Rechten durch die Ablehnung des Gnadenerweises verletzt sei.

Der Beschwerdeführer (Bf.) beantragte, dem Lande die gesamten Kosten des Rechtsmittelverfahrens aufzuerlegen, weil die Ablehnung des Erlaßgesuchs im vollen Umfang unbegründet sei.

Die Darlegungen der Beteiligten geben dem Senat keinen Anlaß, im Ergebnis von der im Vorbescheid getroffenen Entscheidung abzuweichen. Auf deren Begründung wird Bezug genommen. Ergänzend wird folgendes bemerkt.

Zu der Frage, auf die der Vertreter der Oberfinanzdirektion ausführlich eingegangen ist, nämlich ob im gerichtlichen Gnadenverfahren entsprechend der wohl überwiegenden Rechtsmeinung der Rechtsweg unzulässig sei, braucht der Senat nicht Stellung zu nehmen. Er hält jedenfalls die Zulassung des Rechtswegs beim Verfahren über Anträge nach § 477 der Reichsabgabenordnung (AO) auf Erlaß der im steuerlichen Verwaltungsstrafverfahren erkannten Geldstrafen für begründet. In ständiger Rechtsprechung hat der Bundesfinanzhof entschieden, daß Ermessensentscheidungen der Finanzverwaltungsbehörden, einschließlich der Ministerialinstanzen, auf Grund des Art. 19 Abs. 4 GG im steuergerichtlichen Rechtsweg vor den Finanzgerichten und dem Bundesfinanzhof angefochten werden können, wenn Rechtsverletzungen, insbesondere auch vermeintliche Verstöße gegen die Ermessensgrenzen von Recht und Billigkeit geltend gemacht werden, auch wenn ein solcher Rechtsweg in der AO nicht vorgesehen ist (Urteil des Bundesfinanzhofs II 235/53 S vom 1. Dezember 1954, Bundessteuerblatt 1955 III S. 26). Nach § 477 AO ist der Reichsminister der Finanzen befugt, im Verwaltungsstrafverfahren erkannte Strafen zu erlassen. Wenn eine Verwaltungsbehörde (die öffentliche Gewalt) durch eine Rechtsnorm (Gesetz, Rechtsverordnung) ermächtigt wird, beim Vorliegen bestimmter vom Gesetz ausdrücklich vorgesehenen oder aus dem Sachzusammenhang sich ergebenden Umstände einem Beteiligten eine Vergünstigung zu gewähren, so kann die Behörde nicht willkürlich die Vergünstigung zubilligen oder versagen, sondern sie ist verpflichtet, nach sorgfältigem Abwägen der Umstände die Vergünstigung auszusprechen, wenn die Umstände unter Beachtung der Grundsätze von Recht und Billigkeit dies angezeigt erscheinen lassen (vgl. hierzu Becker, Reichsabgabenordnung, 7. Auflage Anmerkung 2 zu § 443). Dieser Verpflichtung der Behörde entspricht beim Betroffenen ein schutzwürdiges Interesse. Art. 19 Abs. 4 GG dient dazu, auch derartige staatsbürgerliche Interessen zu schützen (vgl. v. Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, Anmerkung 6 zu Art. 19 S. 123). Damit ist die Möglichkeit gegeben, daß unabhängige Gerichte überprüfen, ob die Maßnahme der Behörde den Rahmen pflichtmäßigen Ermessens eingehalten hat.

§ 477 AO gehört zu den Vorschriften über das Strafverfahren, bildet sein Schlußstück. Für ihn gelten auch die Ausführungen von Becker im Kommentar zur Reichsabgabenordnung, 7. Auflage Anmerkung 7 der Vorbemerkung vor § 217, daß die Formvorschriften nicht Selbstzweck sind, sondern in erster Linie dazu dienen, den Rechtsschutz der Steuerpflichtigen zu verwirklichen, Erwägungen, die dem Senat bei seiner Rechtsprechung als Richtschnur vorschweben. Bei Betrachtung von Fassung und Inhalt der Vorschrift des § 477 AO drängt sich die Ähnlichkeit der Regelung des § 477 AO (§ 443 AO 1919) mit der des § 131 AO (§ 108 AO 1919) auf. § 131 AO macht die Unbilligkeit der Einziehung der Steuer im einzelnen Fall selbst zum Maßstab der Beurteilung. Sinn und Zweck des § 477 AO erfordern es, ähnliche Gedanken bei der Entschließung über den Erlaß der Strafe zugrunde zu legen. Die Ähnlichkeit der Kompetenzgestaltung bei beiden Erlaßarten verstärkt den Eindruck des Gemeinsamen. § 477 AO bildet somit für das Verwaltungsstrafverfahren die Vorschrift, die § 131 AO für das Steuerverfahren darstellt. Bezeichnenderweise wird im Schrifttum die Ausübung der Befugnisse aus § 131 AO als eine Art "Gnadengewalt" der Exekutive angesprochen, die durch die Rechtsprechung hinsichtlich der Ermessensgrenzen überwacht wird (vgl. Flume, Steuerberater-Jahrbuch 1953/54 S. 113). Nun ist wohl unbestritten, daß gegen Verfügungen im Billigkeitsverfahren nach § 131 AO bei behauptetem Ermessensmißbrauch der Rechtsweg nach Art. 19 Abs. 4 GG offensteht. Es erscheint mit folgerichtiger Rechtsauffassung unvereinbar, beim Verfahren nach § 131 AO den Rechtsweg zuzulassen, bei dem über den Erlaß der Strafe nach § 477 AO, die unter Umständen den Steuerpflichtigen viel härter als die Steuer selbst trifft, die richterliche Nachprüfung auszuschließen.

Dazu kommen folgende Erwägungen. Organisatorisch ist die Nachprüfung der Anträge auf Straferlaß meist der Stelle zugewiesen, die die Strafe ausgesprochen hat. Ferner ist eine Wiederaufnahme des Verfahrens für das Verwaltungsstrafverfahren an sich nicht vorgesehen (so Bekker, Reichsabgabenordnung, 7. Auflage Anmerkung 4 zu § 423, Anmerkung 9 zu § 410; eine andere Ansicht vertritt unter anderem Mattern, Steuerberater-Jahrbuch 1954/55 S. 390).

Der Straferlaß nach § 477 AO bietet ähnlich wie der Billigkeitserlaß nach § 131 AO die Möglichkeit, etwaige Fehler bei der Entscheidung zu beseitigen, Härten zu mildern und den besonderen Verhältnissen des einzelnen Falles (der wirtschaftlichen Lage des Betroffenen) gerecht zu werden. Daß dies geschieht, ist nur bei Überprüfung durch ein unabhängiges Gericht gewährleistet. Zusammenfassend trägt der Senat keine Bedenken, die Zulässigkeit des Rechtswegs gegen Entscheidungen der Oberfinanzdirektion über Anträge auf Erlaß einer im Verwaltungsstrafverfahren erkannten Geldstrafe bei behaupteter Ermessensverletzung zu bejahen.

Im vorliegenden Falle ergibt sich bereits aus der Genehmigungsverfügung der Oberfinanzdirektion zu der Unterwerfungsverhandlung, daß die Bestrafung wegen Umsatz- und Gewerbesteuerhinterziehung sich auf Zeiträume erstreckte, in denen strafbare Handlungen des Bf. nicht begangen sein konnten. Auch der Verschiedenheit des Verschuldens des Antragstellers im Verhältnis zu dem seines Mitgesellschafters ist durch Festsetzung einer gleich hohen Strafe nicht Rechnung getragen. Schließlich sind bei der Nachprüfung der Ablehnung des Erlaßantrages durch die Oberfinanzdirektion die wirtschaftlichen Verhältnisse des Antragstellers unzureichend gewürdigt. Wenn zu diesen Punkten der Vertreter der Oberfinanzdirektion darauf hingewiesen hat, daß die ungerechtfertigte Einbeziehung nicht strafbarer Handlungen bei der Strafzumessung bereits berücksichtigt sei, so ist diese Auffassung nach außen nicht zum Ausdruck gekommen. Gegenüber dem in der mündlichen Verhandlung erhobenen Einwand des Vertreters der Oberfinanzdirektion, der Betroffene habe gegen die Unterwerfung kein Rechtsmittel eingelegt, ist zu bemerken, daß gegen die Aufnahme der Unterwerfungserklärung bzw. die Genehmigung der Unterwerfung eine Beschwerde nur unter besonderen Umständen zulässig ist (vgl. Kühn, Reichsabgabenordnung, Anmerkung 5 zu § 445). Zudem kann nicht außer acht gelassen bleiben, daß der Bf. ein rechtsunkundiger Mann ist, dessen Arbeit dem technischen Teil des Betriebes galt, daß er durch den Zusammenbruch des Unternehmens große wirtschaftliche Schwierigkeiten hatte und endlich daß der Antragsteller aus den Andeutungen des Beamten des Finanzamts bei der Unterwerfungsverhandlung die Aussichten eines Antrags auf Erlaß als günstig ansehen konnte.

Was den Hinweis auf die Verspätung der Berufung anlangt, so trifft zu, daß die Berufung gegen die Entscheidung der Oberfinanzdirektion vom 3. Februar 1953 erst nach Ablauf eines Monats seit Bekanntgabe dieser Entscheidung eingelegt ist. Die Entscheidung der Oberfinanzdirektion ist eine Verwaltungsbeschwerdeentscheidung im Sinne des § 258 AO, gegen die der erweiterte Rechtsweg nach Art. 19 Abs. 4 GG gegeben ist. Gemäß den Ausführungen im Urteil des Bundesfinanzhofs II 235/53 S vom 1. Dezember 1954 hat aber die Rechtsmittelfrist nicht zu laufen begonnen, weil die Entscheidung der Oberfinanzdirektion nicht mit Rechtsmittelbelehrung versehen ist. Daher war das gegen die Entscheidung der Oberfinanzdirektion eingelegte Rechtsmittel (Berufung) nicht verspätet.

Gegenüber den Ausführungen des Vertreters des Bf. verbleibt der Senat dabei, daß in der Sache selbst der Antrag zwar zu einer Herabsetzung der Strafe, aber nicht zu deren völligen Beseitigung geführt hätte. Es muß daher bei der im Vorbescheid vorgenommenen Kostenentscheidung verbleiben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 408212

BStBl III 1955, 274

BFHE 1956, 200

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