Leitsatz (amtlich)

Gemäß Art. 177 Abs. 1 und 3 des Vertrages zur Gründung der EWG werden dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften folgende Fragen zur Entscheidung vorgelegt:

1. Ist Art. 14 der VO Nr. 22 des Rates der EWG vom 4. April 1962, wonach die Mitgliedstaaten alle Maßnahmen zur Anpassung ihrer Rechts- und Verwaltungsvorschriften treffen, damit diese VO, soweit nichts anderes bestimmt ist, ab 1. Juli 1962 angewendet werden kann, dahin zu verstehen, daß die Mitgliedstaaten berechtigt und verpflichtet sind, durch nationale Vorschriften die der Abschöpfung unterliegenden Erzeugnisse (Art. 1 der VO) näher zu erläutern und voneinander abzugrenzen?

2. Bei Verneinung der Frage zu 1.: Ist Art. 1 der VO Nr. 22 des Rates, der Waren des Gemeinsamen Zolltarifs aufführt, dahin auszulegen, daß diese Warenbegriffe durch den nationalen Gesetzgeber ausgelegt werden können, weil Warenbegriffe eines Zolltarifs notwendigerweise der Auslegung bedürfen?

3. Bei Verneinung der Frage zu 2.: Handelt es sich bei Putensterzen um Rücken (Teile von Rücken) oder um andere Teile von Hausgeflügel im Sinne des Art. 2 der VO Nr. 77 der Kommission der EWG vom 23. Juli 1962 (In der Fassung des Art. 1 der VO Nr. 136 der Kommission der EWG vom 31. Oktober 1962) oder um genießbaren Schlachtabfall im Sinne des Art. 3 dieser VO?

 

Normenkette

EWGV 22/62 Art. 1, 14; EWGV 77/62 Art. 2-3; EWGV 136/1962 Art. 1

 

Tatbestand

I.

Für die Klägerin wurden am 12. November 1962 1196 Kartons einer aus den USA eingeführten Ware zum freien Verkehr abgefertigt, die als „genießbarer Schlachtabfall von Puten” angemeldet wurde. In der der Zollanmeldung beigefügten Rechnung wurde die Ware als „Turkey Tails” (Putensterze) bezeichnet. Das Zollamt (ZA) wies die Ware der Nr. 02.02-C des Abschöpfungstarifs (AbT) zu und erhob unter Zugrundelegung eines Abschöpfungssatzes von 49,15 DM (44,07 DM Regelabschöpfung und 5,08 DM Zusatzabschöpfung) durch formlosen Bescheid Abschöpfung und Ausgleichsteuer.

Auf Grund einer inzwischen bekanntgewordenen verbindlichen Abschöpfungstarifauskunft änderte das ZA diesen Bescheid und forderte mit Steueränderungsbescheid vom 15. Mai 1963 insgesamt 42 339,70 DM Abschöpfung nach mit der Begründung, daß Putensterze nicht als genießbarer Schlachtabfall, sondern als Teile von Geflügel (AbTnr. 02.02 – B – II – b) zu behandeln seien, für die ein erhöhter Abschöpfungssatz von 361,33 DM/100 kg (109,77 DM Regelabschöpfung und 241,56 DM Zusatzabschöpfung) bestehe. Der Einspruch hatte keinen Erfolg.

Während des Berufungsverfahrens änderte das Hauptzollamt (HZA) mit Bescheid vom 11. Januar 1967 seine Einspruchsentscheidung vom 11. November 1963 und den Steueränderungsbescheid vom 15. Mai 1963. Es erhob nur noch die Regelabschöpfung für Teile von Geflügel der AbTnr. 02.02-B-II-b (119,77 DM/100 kg) und setzte die Abschöpfung für die eingeführten Putensterze entsprechend herab. Die Klägerin erklärte daraufhin den Rechtsstreit in der Hauptsache insoweit für erledigt, als das HZA ihrem Antrag entsprochen hat.

Die Berufung führte zur Aufhebung des Steueränderungsbescheides vom 15. Mai 1963 in der ihm in der Einspruchsentscheidung vom 11. November 1963 mit Änderung vom 11. Januar 1967 gegebenen Fassung. Die Abschöpfung wurde wieder auf den ursprünglichen Betrag festgesetzt.

Das Finanzgericht (FG) vertrat die Auffassung, daß die Putensterze nach der Tarifsituation im Zeitpunkt der Einfuhr als genießbarer Schlachtabfall im Sinne der Nr. 02.02 – C des Ab und nicht als Teile von Geflügel der Tarif stelle 02.02 – B – II – b anzusehen seien. Nach den gemäß § 78 Abs. 2 ZG ergangenen Erläuterungen zum Deutschen Zolltarif (DZT) zu Kap. 2 Abschn. I Abs. 3 gehörten u. a. Schwänze zum genießbaren Schlachtabfall. Die Putensterze seien Schwänze im Sinne dieser Erläuterungen. Nach der Vorbemerkung Nr. 2 zum AbT – aufgestellt aufgrund der Abschöpfungstarifverordnung vom 13. August 1962 (Bundesgesetzblatt 1962 II S. 1033 – BGBl 1962 II, 1033 –), die ihrerseits aufgrund des § 9 Abs. 2 und 3 des Abschöpfungserhebungsgesetzes (AbG) vom 25. Juli 1962 (BGBl I, 453) ergangen sei –, seien die Erläuterungen zum DZT zur Auslegung und Anwendung des AbT anzuwenden. Jede andere Tarifierung der Putensterze würde überdies zu wirtschaftlich untragbaren Ergebnissen führen. Auch die Tatsache, daß Putensterze seit dem 1. Juli 1966 aufgrund der 21. Verordnung zur Änderung des Abschöpfungstarifs (Bundeszollblatt 1966 S. 580 – BZBl 1966, 580 –) als Teile von Geflügel unter die Tarifstelle 02.02 (B)-II-e fielen, vermochten an der Auflassung des FC nichts zu ändern.

II.

Mit seiner Revision beantragt das HZA, die Vorentscheidung aufzuheben, offensichtlich mit dem weiteren Begehren, die Klage abzuweisen, soweit die Hauptsache nicht erledigt ist.

Zur Begründung trägt das HZA vor, dem Warenbegriff „genießbarer Schlachtabfall” im Sinne der Tarifnr. 02.02 des DZT und des AbT könne nur der Inhalt zukommen, der diesem Begriff in der Tarifnr. 02.02 des Gemeinsamen Zolltarifs zukomme.

In den Erläuterungen zum DZT zu Kap. 2 unter Abschn. I Abs. 3 seien „Schwänze” dem genießbaren Schlachtabfall zugerechnet. Diese Bestimmung erlasse aber nur Teile des Tierkörpers, die beim Schlachten abfielen, also in erster Linie die Schwänze von Rindern. Schwänze dieser Tiere würden beim Schlachten grundsätzlich vom Tierkörper abgetrennt. Putensterze fielen dagegen beim Schlachten nicht an. Vielmehr bildeten Putensterze in der Regel Teile einer im Handel als „backs and necks” bezeichneten Ware, die unstreitig Geflügelteile seien. Erst nach Einführung des Marktordnungsrechts für Geflügel seien „Putensterze” als selbständige Waren auf dem Markt erschienen. Sie seien – aus Gründen der Einsparung von Abgaben – entsprechend der Order der Importeure von den Rückenstücken abgeschnitten worden. Der Auslegung des Begriffs „Schwänze” – und damit auch dem Gutachten des Vet. Med. Laboratoriums vom 6. September 1966 – komme im Streitfalle keine entscheidende Bedeutung zu. Im Europäischen Wirtschaftsgemeinschafts(EWG)-Recht würden Putensterze als Geflügelteile behandelt. Damit könne auch der Begriff „Schwänze” im Sinne der Erläuterungen keine Putensterze beinhalten.

III.

Der Bundesminister der Finanzen (BdF), der dem Verfahren beigetreten ist, stellt offensichtlich den gleichen Antrag wie das HZA. Er trägt vor, daß die Tarifierung der Putensterze als Schlachtabfall nicht mit der Anmerkung zur Tarifnr. 02.02 des AbT begründet werden könne, weil sich diese Anmerkung nur auf Hausgeflügel des Abs. A beziehe. Auf Geflügelteile könne sich diese Anmerkung nicht beziehen, da die Tarifstellen „andere” ihre Anwendung ausschlössen.

Das FG verkenne weiter die Auswirkung des § 9 Abs. 2 AbG. Wäre es richtig, daß die Erläuterungen zu Kap. 2 I (3) „Putensterze” als genießbaren Schlachtabfall klassifizierten, hätte diese Ware als eigene Unterposition in Abs. C der Tarifnr. 02.02 (genießbarer Schlachtabfall) erscheinen müssen. Eine solche Regelung stünde aber in Widerspruch zur Verordnung (VO) Nr. 79/66 vom 29. Juni 1966 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 1966 S. 2176 – ABlEG 1966, 2176 –).

Die Tarifierung der Putensterze als Schlachtabfall könne nicht mit wirtschaftlichen Überlegungen begründet werden. Wenn das FG die Tarifierung der Putensterze von der Höhe der Umrechnungskoeffizienten abhängig machen wolle, hätte es logischerweise die Ware als Teile von „backs and necks” (Rücken und Hälse) ansprechen und dem Abs. B-II-a der Tarifnr. 02.02 des AbT zuweisen müssen.

IV.

Die Klägerin beantragt, die Revision kostenpflichtig zurückzuweisen.

Zur Begründung trägt sie vor, die Einfuhr der streitigen Partie habe am 12. November 1962 stattgefunden. Die Frage der richtigen Eintarifierung sei nach den damals geltenden Bestimmungen zu beantworten. Die Dispositionen, zu denen es wegen dieser Frage bei der EWG-Kommission gekommen sei, hätten sämtlich später stattgefunden.

Die VO Nr. 79/66 der EWG-Kommission vom 29. Juni 1966 und die im Bundesanzeiger (BAnz.) Nr. 130 vom 17. Juli 1966 verkündete VO zur Änderung des Abschöpfungstarifs (BZBl 1966, 580) seien unmittelbar für die hier zu treffende Entscheidung ohne Bedeutung, denn sie seien im Zeitpunkt der Einfuhr noch nicht existent gewesen. Mittelbar aber gäben sie zu erkennen, daß die Putensterze bei der gebotenen wirtschaftlichen Betrachtungsweise wegen ihrer Geringwertigkeit abschöpfungsrechtlich als Schlachtabfall angesehen werden müßten und daß es unangemessen sei, sie mit einer hohen Abschöpfung zu belegen.

Die Feststellung des vom FG hinzugezogenen Gutachters in zoologischer Hinsicht würde vom HZA offenbar nicht mehr angegriffen. Es stehe daher lest, daß es sich bei der eingeführten Ware um „Schwänze” im zoologischen Sinne gehandelt habe. Schwänze gehörten aber nach den im Zeitpunkt der Einfuhr geltenden Erläuterungen zur Zolltarifnr. 02-02-C. Da im AbT zum damaligen Zeitpunkt eine Begriffsbestimmung für genießbaren Schlachtabfall gefehlt habe, müsse für die Auslegung dieses Begriffs auf die Erläuterungen zum Zolltarif zurückgegriffen werden.

 

Entscheidungsgründe

V.

1. Die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Erhebung der höheren Abschöpfung für die in Rede stehenden Putensterze als Geflügelteile gegenüber der Abschöpfung für genießbaren Schlachtabfall hängt im vorliegenden Falle von der Beantwortung der im Tenor gestellten Fragen ab.

2. Nach Art. 177 Abs. 1 EWG-Vertrag entscheidet der Europäische Gerichtshof im Wege der Vorabentscheidung u. a. über die Auslegung des Vertrages und über die Gültigkeit und Auslegung der Handlungen der Organe der Gemeinschaft. Nach Abs. 3 a. a. O. ist, wenn eine derartige Frage in einem schwebenden Verfahren bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt wird, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, dieses Gericht zur Anrufung des Gerichtshofs verpflichtet.

3. Die Erhebung der Abschöpfung für Geflügelfleisch gründet sich im Streitfalle letztlich auf die VO Nr. 22 des Rates der EWG über die schrittweise Errichtung einer gemeinsamen Marktorganisation für Geflügelfleisch vom 4. April 1962 (ABlEG 1962, 959) in Verbindung mit weiteren Verordnungen der Kommission der EWG, u. a. der VO Nr. 77 der Kommission der EWG über die Festsetzung der Abschöpfungsbeträge für lebendes Hausgeflügel mit einem Gewicht über 185 Gramm und Teile von geschlachtetem Hausgeflügel vom 23. Juli 1962 (ABlEG 1962, 1881) und der VO Nr. 136 der Kommission der EWG vom 31. Oktober 1962 (ABlEG 1962, 2625). Die Brüsseler Erläuterungen (in der für den Streitfall maßgebenden Fassung) sind zum Brüsseler Zolltarifschema ergangen, haben also im Streitfall für die Auslegung des Gemeinsamen Zolltarifs keinen rechtsverbindlichen Charakter.

 

Fundstellen

BFHE 1969, 252

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