Entscheidungsstichwort (Thema)

Rückübertragung einer Sache vom Einzelrichter auf den vollen Senat bei zwischenzeitlichem Wechsel des Spruchkörpers

 

Leitsatz (NV)

1. Die Rückübertragung eines Rechtsstreits durch den Einzelrichter auf den Spruchkörper ist unanfechtbar. Eine Besetzungsrüge ist daher grundsätzlich ausgeschlossen.

2. Zur Möglichkeit der Rückübertragung auf den vollen Senat.

3. Eine greifbar gesetzeswidrige Rückübertragung einer ihm vom ursprünglich sachlich zuständigen Spruchkörper übertragenen Sache durch den Einzelrichter liegt auch dann nicht vor, wenn dieser den Senat gewechselt hat und der neue Spruchkörper an sich nicht sachlich zuständig wäre.

4. § 21 e Abs. 4 GVG sieht ausdrücklich die Möglichkeit vor, daß ein Richter beim Wechsel des Spruchkörpers weiter für ihm früher zugewiesene Sachen zuständig bleiben kann.

 

Normenkette

FGO §§ 5, 6 Abs. 3-4, § 116 Abs. 1 Nr. 1, § 119 Nr. 1; GG Art. 101 Abs. 1 S. 2; GVG § 21e Abs. 4

 

Tatbestand

Mit der Revision rügt der Kläger und Revisionskläger (Kläger), das Finanzgericht (FG) sei nicht ordnungsgemäß besetzt gewesen. Nach dem Geschäftsverteilungsplan des FG sei der 10. Senat zuständig gewesen, da sich die Klage gegen das frühere Finanzamt A gerichtet habe. Da dem 11. Senat Streitigkeiten über die Zuordnung von Einkünften aus Gewerbebetrieb zugewiesen seien, habe dieser die Sache übernommen. Dieser habe dann mit Beschluß vom 26. Januar 1993 den Rechtsstreit gemäß § 5 Abs. 3 Satz 1 und § 6 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) dem Vorsitzenden Richter des 11. Senats, X, als Einzelrichter übertragen. Aufgrund des Präsidiumsbeschlusses vom 25. August 1994 habe der Vorsitzende Richter unter Mitnahme der Streitsache dann den Vorsitz im 9. Senat übernommen. Durch den nicht begründeten Beschluß vom 19. Januar 1995 habe er die Sache auf den 9. Senat übertragen. Dieser habe daraufhin das angefochtene Urteil erlassen.

In der Übertragung des Rechtsstreits auf den 9. Senat liege ein Verstoß gegen den Anspruch auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes -- GG --). Der Einzelrichter hätte die Sache nicht auf das Kollegium übertragen dürfen, da die Voraussetzungen des § 6 Abs. 3 FGO nicht erfüllt gewesen seien. Mit der Übertragung auf den Einzelrichter werde eine im Prinzip nicht mehr veränderbare Zuständigkeit begründet. Die Rückübertragung auf das Kollegium sei grundsätzlich unzulässig, weil sie dem Normzweck widerspreche (Oberlandesgericht -- OLG -- Köln, Urteil vom 10. März 1976, Neue Juristische Wochenschrift -- NJW -- 1976, 1101). Wegen der fast wortgleichen Formulierung des § 6 FGO könne insoweit auf die Kommentierung zu § 348 der Zivilprozeßordnung -- ZPO -- zurückgegriffen werden (Gramich, Deutsches Steuerrecht -- DStR -- 1993, 6 ff.).

Die Voraussetzungen für eine -- ausnahmsweise zulässige -- Rückübertragung seien nicht gegeben. Grundsätzliche Bedeutung habe die Sache schon deshalb nicht, weil das FG die Revision nicht zugelassen habe. Eine Übertragung wegen besonderer Schwierigkeiten rechtlicher oder tatsächlicher Art scheide aus, weil dies voraussetze, daß die Schwierigkeiten aufgrund einer wesentlichen Änderung der Prozeßlage nach der Übertragung auf den Einzelrichter eingetreten seien (Gramich, DStR 1993, 6 ff.). Die Prozeßlage habe sich aber nicht geändert. Erkennendes Gericht sei damit der Einzelrichter geblieben. Das sei ein Verstoß gegen den Grundsatz des gesetzlichen Richters (OLG München, Beschluß vom 21. Februar 1983, Monatsschrift für Deutsches Recht -- MDR -- 1983, 498). Damit sei der absolute Revisionsgrund des § 116 Abs. 1 Nr. 1 und § 119 Nr. 1 FGO gegeben. Die Persönlichkeit des für den Einzelfall berufenen Richters sei ein nicht zu unterschätzender Entscheidungsfaktor (Sangmeister, Deutsche Steuer-Zeitung -- DStZ -- 1988, 31). Da sich nicht ausschließen lasse, daß das Urteil bei einer Entscheidung durch den Einzelrichter anders ausgefallen wäre, müsse davon ausgegangen werden, daß das Urteil auch auf der Verletzung von Bundesrecht beruhe (§ 118 Abs. 1 Satz 1 FGO).

Jedenfalls liege in der Übertragung auf den 9. Senat ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, weil der 11. Senat als Spezialsenat zuständig gewesen sei.

Die gesetzlichen Regelungen über den gesetzlichen Richter bedürften der Ergänzung durch den Geschäftsverteilungsplan. Die ordnungsgemäße Besetzung müsse, soweit sie auf der ergänzenden Geschäftsverteilung nach § 21e, § 21g des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) beruhe, anhand der entsprechenden Unter lagen des Gerichts im einzelnen konkret nachprüfbar sein (Beschluß des Bundesverfassungsgerichts -- BVerfG -- vom 24. März 1964, NJW 1964, 1020). Nach dem Geschäftsverteilungsplan sei der 11. Senat nach wie vor als Spezialsenat für die Feststellung von Einkünften aus Gewerbebetrieb zuständig gewesen. Auch wenn der Einzelrichter zum "erkennenden Gericht" werde, habe er jedoch nicht die Kompetenz, durch "Rück"übertragung der Sache quasi selbstherrlich eine andere, dem Geschäftsverteilungsplan widersprechende Zuständigkeit zu begründen.

Es handle sich auch nicht um eine bloße irrtümlich fehlerhafte Anwendung des Geschäftsverteilungsplanes. Nach der Rechtsprechung setze § 116 Abs. 1 Nr. 1 FGO nicht lediglich eine irrtümlich falsche Anwendung, sondern eine willkürliche Inanspruchnahme einer nicht gegebenen Zuständigkeit voraus (Nachweise), also wenn der Verfahrensfehler die sich für jeden einzelnen Rechtsstreit "blindlings" ergebende Entscheidungszuständigkeit verletzen könne (Beschluß des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 31. Juli 1989 VIII R 41/86, BFH/NV 1990, 511). Ein Irrtum setze eine falsche Vorstellung über Tatsachen voraus. Ein Irrtum hätte sich z. B. darin manifestieren können, daß der Einzelrichter explizit -- wie im Vordruck vorgesehen -- den 9. Senat benannt hätte. Das sei aber nicht geschehen, sondern die Rubrik sei schlicht durchgestrichen worden. Damit fehle es bereits an der notwendigen Bestimmtheit für die "Rückübertragung". Das Durchstreichen zeige auch, daß er das Problem als solches erkannt habe, sich aber nicht um die Lösung bemüht habe, sondern sich von willkürlichen Erwägungen habe leiten lassen.

Bei Unklarheiten über die Geschäftsverteilung hätte genau wie bei einem negativen Kompetenzkonflikt das Gerichtspräsidium angerufen werden müssen (Sangmeister, DStZ 1988, 39 f.; Kissel, Gerichtsverfassungsgesetz, § 16 Rdnr. 13).

Der Verfahrensfehler sei auch nicht durch rügelose Einlassung geheilt worden. Verfahrensfehler bei der Rückgabe an den Senat seien unverzichtbar i. S. des § 295 Abs. 2 ZPO (Nachweise).

Die Nichtigkeit der Rückübertragung ergebe sich auch aus dem Grundsatz von Treu und Glauben.

Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unzulässig und daher gemäß § 126 Abs. 1 FGO durch Beschluß zu verwerfen.

Der Kläger hat den geltend gemachten Verfahrensmangel der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung (§ 116 Abs. 1 Nr. 1 und § 119 Nr. 1 FGO) des FG nicht schlüssig gerügt. Die von ihm vorgetragenen Tatsachen begründen keinen Verfahrensfehler.

1. § 116 Abs. 1 Nr. 1 FGO und § 119 Nr. 1 FGO sollen sicherstellen, daß die Entscheidungen des erkennenden Gerichts von dem gesetzlichen Richter i. S. des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG getroffen werden. Gesetzlicher Richter ist auch der Einzelrichter, dem der Senat den Rechtsstreit gemäß § 6 Abs. 1 FGO zur Entscheidung übertragen hat. Der Einzelrichter ist damit grundsätzlich bis zum Ende des Rechtsstreits allein zur Entscheidung berufen. Er kann jedoch unter den Voraussetzungen des § 6 Abs. 3 FGO den Rechtsstreit durch unanfechtbaren Beschluß (§ 6 Abs. 4 Satz 1 FGO) auf den Senat zurückübertragen. Unanfechtbar ist dieser Beschluß selbst dann, wenn die Voraussetzungen für die Rückübertragung nicht erfüllt waren; doch wird erörtert, ob eine Beschwerde mit der Begründung eingelegt werden kann, die Rückübertragung sei willkürlich (Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 6 Anm. 26, 19). Eine solche Beschwerde liegt hier jedoch nicht vor.

2. Unabhängig davon ist eine Besetzungsrüge in einem späteren Rechtsmittelverfahren entsprechend § 6 Abs. 4 Satz 1 i. V. m. § 124 Abs. 2 FGO ausgeschlossen (Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 6 FGO Tz. 9; Gräber/Koch, a. a. O., 3. Aufl., § 6 Anm. 28; Kühn/Hofmann, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 17. Aufl., § 6 FGO Anm. 6). Dennoch hat der BFH für den Fall der Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter angenommen, ein Besetzungsmangel i. S. des § 116 Abs. 1 Nr. 1 FGO und § 119 Nr. 1 FGO sei gegeben, wenn sich der Einzelrichter selbst bestellt hat, ihm der Rechtsstreit nur durch Verfügung des Vorsitzenden zugewiesen, gegen die ausdrücklichen Verbote des § 6 Abs. 2 oder Abs. 3 Satz 2 FGO verstoßen worden ist oder wenn sich die Übertragung aus sonstigen Gründen als "greifbar gesetzwidrig" erweist (BFH-Beschluß vom 19. Januar 1994 II R69/93, BFH/NV 1994, 725; Senatsurteil vom 8. Juni 1995 IV R 80/94, BFHE 178, 147, BStBl II 1995, 776). Für den Fall der Rückübertragung auf den Senat muß das entsprechend gelten.

Das Vorliegen eines derartigen Sachverhalts hat der Kläger nicht schlüssig dargetan. Die Nichtzulassung der Revision bedeutet nicht, daß für die Rückübertragung der Sache auf den Senat kein Anlaß bestanden haben könne. Es besteht die naheliegende Möglichkeit, daß der Einzelrichter aufgrund einer wesentlichen Änderung der Prozeßlage der Rechtssache eine grundsätzliche Bedeutung zugemessen hat, die sie aber in den Augen des Senats nicht hat und auch ursprünglich bei der Übertragung auf den Einzelrichter nicht hatte. Ferner darf der Einzelrichter die Sache zurückübertragen, wenn sich aus einer wesentlichen Änderung der Prozeßlage -- etwa durch einen völlig neuen Sachvortrag -- besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art ergeben haben. Auch in diesem Fall muß der Senat die Revision nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung zulassen. Der gleichzeitig ergangene Beweisbeschluß des Vollsenats deutet sogar darauf hin, daß für den Einzelrichter wohl besondere Schwierigkeiten tatsächlicher Art entscheidend für die Rückübertragung waren. Als möglichen Grund für eine Rückübertragung nennt Gramich in dem vom Kläger erwähnten Beitrag (DStR 1993, 6 ff., 8) die Veränderung der tatsächlichen Umstände durch umfangreiche Beweisanträge auf Vernehmung zweifelhafter Zeugen. Unerheblich ist hier, ob der Einzelrichter eine wesentliche Veränderung zu Recht annehmen durfte oder nicht. Jedenfalls macht der Kläger weder einen Verstoß gegen ein ausdrückliches Verbot noch eine andere offensichtlich unhaltbare Handhabung des § 6 FGO geltend.

Eine "greifbare Gesetzeswidrigkeit" hat er auch nicht dadurch dargetan, daß der als Einzelrichter tätige Vorsitzende Richter den Rechtsstreit nicht -- wie der Kläger meint -- auf den 11. Senat des FG, sondern auf den 9. Senat zurückübertragen hat. Insbesondere lassen sich willkürliche Erwägungen nicht daraus herleiten, daß er in der Aktenausfertigung des Beschlusses vom 19. Januar 1995 die für die Ordnungsnummer des Senats vorgesehene Rubrik gestrichen hat. Da der Einzelrichter dem 9. Senat angehörte, erübrigte es sich, den Spruchkörper eigens zu benennen, auf den er den Rechtsstreit nach seiner Vorstellung zu übertragen hatte. Nach § 5 Abs. 3 i. V. m. Abs. 2 FGO entscheiden die FG nämlich grundsätzlich durch die zu bildenden Senate, soweit nicht ein Einzelrichter entscheidet. § 6 Abs. 1 FGO geht folgerichtig davon aus, daß der jeweilige Senat einem seiner Mitglieder den Rechtsstreit unter bestimmten Voraussetzungen als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen kann. Daran knüpft § 6 Abs. 3 Satz 1 FGO an, wenn es dem Einzelrichter die Möglichkeit einräumt, "den Rechtsstreit auf den Senat zurückzuübertragen". Das heißt, daß er den Rechtsstreit nur auf den Senat übertragen kann, dem er als Mitglied angehört. Für den Streitfall, in dem der mit der Sache beauftragte Einzelrichter in einen anderen Senat gewechselt ist, kann trotz der Verwendung des Begriffs "Rückübertragen" nichts anderes gelten. Da er -- so der Vortrag des Klägers -- unter Mitnahme der Streitsache den Vorsitz des 9. Senats übernommen hatte, handelte es sich auch nach dem Aktenzeichen um eine beim 9. Senat anhängige Sache, auch wenn die übrigen Mitglieder dieses Senats zunächst nicht zur Entscheidung berufen waren.

3. Der Kläger hat ferner nicht schlüssig dargetan, daß bei der Besetzung des Gerichts willkürlich vom Geschäftsverteilungsplan abgewichen worden sei. Es ist in der Rechtsprechung anerkannt (vgl. z. B. BFH-Urteil vom 21. November 1988 VIII R 5/88, BFH/NV 1989, 517), daß nicht jeder Fehler bei der Anwendung von Vorschriften, die den gesetzlichen Richter betreffen, zu einer Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG und damit zu einem Verfahrensfehler (§ 116 Abs. 1 Nr. 1, § 119 Nr. 1 FGO) führt. Eine unbewußte oder irrtümliche, wenn auch rechtsfehlerhafte Abweichung vom Geschäftsverteilungsplan genügt nicht, vielmehr muß die Handhabung offensichtlich unhaltbar, also willkürlich sein (Tipke/Kruse, a. a. O., 16. Aufl., § 116 FGO Tz. 12, m. w. N.; Gräber/Ruban, a. a. O., 3. Aufl., § 119 Anm. 5). Dafür hat der Kläger indes keinerlei konkrete Anhaltspunkte vorgetragen. Auch der Kläger hält die im Präsidiumsbeschluß vom 25. August 1994 getroffene Bestimmung, daß der Vorsitzende Richter X trotz seines Ausscheidens aus dem 11. Senat und seiner Bestellung zum Vorsitzenden des 9. Senats weiter in seiner Sache zuständig bleiben solle, für rechtmäßig. § 21 e Abs. 4 GVG sieht eine solche Anordnung des Präsidiums ausdrücklich vor. Die Vorschrift verlangt nicht, daß für Kollegialentscheidungen in den vom ausgeschiedenen Mitglied "mitgenommenen" Sachen weiterhin der alte Spruchkörper in seiner früheren Besetzung tätig wird. Daraus folgt, daß auch die Übertragung des Rechtsstreits auf den 9. Senat nicht als willkürlich angesehen werden kann.

 

Fundstellen

Haufe-Index 421520

BFH/NV 1996, 908

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