Leitsatz (amtlich)

1. Gewährt ein Gesetz eine Vergünstigung, die es im Nachsatz gleichheitswidrig einschränkt, so kann von der Nichtigkeit nur des einschränkenden Teils der Vorschrift nur dann ausgegangen werden, wenn mit Sicherheit feststeht, daß der Gesetzgeber bei Beachtung des Art. 3 GG auch die verbleibende Fassung gewählt hätte.

2. Eine „verfassungskonforme erweiternde” Auslegung des § 1 Nr. 11 des Berliner Landesgesetzes 1956 unter Außerachtlassung der Eigennutzungsklausel ist nicht statthaft.

3. Da § 1 Nr. 6 des Berliner Landesgesetzes 1953 wirksam war, so war er es als § 1 Nr. 11 des Berliner Landesgesetzes 1956 auch weiterhin geblieben, selbst wenn sich nachträglich eine Ungleichheit durch das spätere Änderungsgesetz 1956 daraus ergeben haben sollte, daß für andere Wohneinheiten eine Eigennutzung nicht gefordert wurde.

 

Normenkette

Berliner Gesetz über Grunderwerbsteuerbefreiung für den sozialen Wohnungsbau und den Wiederaufbau von Trümmergrundstücken i.d.F. vom 30. Mai 1956 - Berliner LG 1956 – (BVBl, 541) § 1 Nr. 10; Berliner Gesetz über Grunderwerbsteuerbefreiung für den sozialen Wohnungsbau und den Wiederaufbau von Trümmergrundstücken i.d.F. vom 30. Mai 1956 – Berliner LG 1956 - (BVBl, 541) § 1 Nr. 11; Berliner Gesetz über Grunderwerbsteuerbefreiung für den sozialen Wohnungsbau und den Wiederaufbau von Trümmergrundstücken vom 7. Juli 1953 - Berliner LG 1953 – (GVBl, 595) § 1 Nrn. 5-6; Berliner Gesetz vom 24. Mai 1956 zur Änderung und Ergänzung des Gesetzes über Grunderwerbsteuerbefreiung für den sozialen Wohnungsbau und den Wiederaufbau von Trümmergrundstücken - Berliner ÄndG 1956 – (GVBl, 539) Art. I Nr. 1 Buchst. d; GG Art. 3

 

Tatbestand

Die Beschwerdeführerin erwarb in Berlin eine Eigentumswohnung. Sie erklärte, sie beabsichtige nicht, die Wohnung selbst zu bewohnen. Das Finanzamt – FA – (Beschwerdegegner) setzte eine Grunderwerbsteuer fest, da die Steuerbefreiung gemäß § 1 Nr. 11 des Berliner Gesetzes über Grunderwerbsteuerbefreiung für den sozialen Wohnungsbau und den Wiederaufbau von Trümmergrundstücken in der Fassung vom 30. Mai 1956 – LG 1956 – (Gesetz- und Verordnungsblatt S. 541 – GVBl, 541 –) nicht gewährt werden könne. Über den Einspruch ist noch nicht entscheiden. Den Aussetzungsantrag hat der Beschwerdegegner abgelehnt.

Daraufhin beantragte die Beschwerdeführerin beim Finanzgericht (FG), die Vollziehung des Steuerbescheids auszusetzen, da es mit Art. 3 des Grundgesetzes (GG) nicht vereinbar sei, daß der Ersterwerber einer Eigentumswohnung, die er nicht selbst bewohne, Grunderwerbsteuer entrichten müsse, während der erste Erwerb eines Ein- oder Mehrfamilienhauses gemäß § 1 Nr. 10 LG 1956 steuerfrei sei.

Das FG hat den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Steuerbescheids abgelehnt. Der Beschwerde hat es nicht abgeholfen.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde kann keinen Erfolg haben.

Der Grundrechtsartikel 3 GG (vgl. Art. 6 der Verfassung von Berlin) gilt auch im Land Berlin. Der Bundesfinanzhof (BFH) ist berechtigt und verpflichtet, die Vereinbarkeit des § 1 Nrn. 10 und 11 des Berliner LG 1956 mit Art. 3 GG zu überprüfen (Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bd. 1 S. 70 – BVerfGE 1, 70 –; 7, 1, 10, 15, 16; vgl. noch Leibholz-Rinck, Grundgesetz, Kommentar, 3. Aufl., Einführung Tz. 52-58).

Das FG meint, darin, daß das LG 1956 die Steuervergünstigung des § 1 Nr. 11 bei Eigentumswohnungen vom Selbstbewohnen durch den Ersterwerber abhängig mache, dies im Rahmen des § 1 Nr. 10 aber nicht beim Ersterwerb von Einfamilienhäusern forderte, liege wegen ungleicher Sachverhalte kein Verstoß gegen Art. 3 GG. Zwischen Eigentumswohnung und Einfamilienhaus bestehe ein beachtlicher Unterschied schon in der – vom Gesetzgeber in Kauf genommenen – größeren Ausnutzungsmöglichkeit durch Unterbringung auch von Fremden in einem Einfamilienhaus. Außerdem könne der gesetzgeberische Wille, auch ein gesundes Familienleben zu fördern, praktisch nur bei der kleinsten Einheit der begünstigten Erwerbsobjekte – der Eigentumswohnung – verwirklicht werden; deshalb müsse dem Gesetzgeber der Spielraum eingeräumt werden, wenigstens bei diesen Wohnungen die Steuervergünstigung von Selbstbewohnern abhängig zu machen.

Gegen die vom FG angeführten Gründe einer Differenzierung zwischen Eigentumswohnungen und Einfamilienhäusern mögen allerdings Zweifel geltend gemacht werden können. Die Frage, ob die bezeichneten Unterscheidungen in den Nrn. 10 und 11 des inzwischen durch § 35 Nr. 4 des Berliner Grunderwerbsteuergesetzes vom 18. Juli 1969 (GVBl, 1034) aufgehobenen und durch die §§ 6 bis 10 dieses Grunderwerbsteuergesetzes ersetzten LG 1956 nicht mit dem Gleichheitssatz zu vereinbaren waren, muß und kann jedoch in diesem Verfahren offenbleiben. Denn auch wenn zugunsten der Beschwerdeführerin unterstellt wird, die unterschiedliche Regelung für Einfamilienhäuser und Eigentumswohnungen habe dem Art. 3 GG widersprochen, muß ihre Beschwerde aus den folgenden Erwägungen erfolglos bleiben.

Die Beschwerdeführerin erstrebt im Ergebnis nicht etwa die gerichtliche Entscheidung, daß § 1 Nr. 10 oder Nr. 11 LG 1956 oder beide Vorschriften grundgesetzwidrig seien, sondern im Gegenteil die Anwendung des § 1 Nr. 11 LG 1956, jedoch ohne Beachtung des für nichtig gehaltenen letzten Satzteiles „und die Wohnung selbst bewohnt”. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Vergünstigungsvorschrift überhaupt in diesem Sinne spaltbar ist. Auch wenn man hiervon ausgeht, so darf in Fällen, in denen ein Gesetz eine Vergünstigung gewährt, sie im Nachsatz aber gleichheitswidrig einschränkt, von der Nichtigkeit nur des einschränkenden Teils der Vorschrift nur dann ausgegangen werden, wenn mit Sicherheit feststeht, daß der Gesetzgeber bei Beachtung des Art. 3 GG auch die verbleibende Fassung gewählt hätte. Denn andernfalls würde das Gericht unter Überschreitung der Grenzen der Gerichtsbarkeit und unter Verfälschung des Willens des Gesetzgebers an die Stelle eines eindeutigen Gesetzes eine andere Gerichtliche Regelung setzen (vgl. z. B. BVerfGE 2, 380, 406; 8, 28, 36; 9, 250, 255; 14, 308, 311).

Ein solches Maß an Sicherheit ist hier nicht gegeben. Offensichtlich ist vom Gegenteil auszugehen. Das zeigt eindeutig die gesetzgeberische Entwicklungsgeschichte. Der dem späteren § 1 Nr. 11 LG 1956 entsprechende § 1 Nr. 6 des ersten (Initiativ-) Gesetzes über Grunderwerbsteuerbefreiung für den sozialen Wohnungsbau und den Wiederaufbau von Trümmergrundstücken vom 7. Juli 1953 – LG 1953 – (GVBl, 595) – eine amtliche Begründung fehlt (vgl. die Stenographischen Berichte der 69. und 75. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin vom 21. Mai und 2. Juli 1953, III. Bd., Nrn. 9 und 15) – enthielt bereits die Eigennutzungsklausel. Entsprechendes galt gemäß § 1 Nr. 5 des LG 1953 für den ersten Erwerb eines Hausgrundstücks unter Übernahme als Eigenheim (§ 3 Abs. 3 LG 1953). Der entscheidende Unterschied wurde durch Art. I Nr. 1 Buchst. d des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des obenangeführten LG 1953 vom 24. Mai 1956 (GVBl, 539) begründet. Während der dem § 1 Nr. 6 LG 1953 entsprechende § 1 Nr. 11 des unter dem Datum des 30. Mai 1956 (GVBl, 541) nur neu gefaßten LG 1956 sachlich unverändert blieb, war die weitere Vergünstigung des Ersterwerbs durch § 1 Nr. 10 der neuen Fassung allgemein auf „Wohngebäude” ausgedehnt worden. Zwar sollte es sich dabei um die nach § 1 Nr. 1 oder Nr. 2 LG 1956 steuerbegünstigten Wohngebäude handeln (vgl. die Verwaltungsanordnung zur Ausführung des LG 1956 des Finanzsenators vom 6. Februar 1957 Abschn. I zu § 1 des Gesetzes Nr. 7, Steuer- und Zollblatt 1957 S. 235, 236). Das ergibt sich jedoch – anders als bei § 1 Nr. 11 LG 1956 – weder aus § 1 Nr. 10 LG 1956 selbst noch aus der Legaldefinition des § 3 Abs. 6 LG 1956. Mangels amtlicher Begründung (vgl. Drucksache des Abgeordnetenhauses von Berlin II. Wahlperiode Nr. 705, Stenographischer Bericht der 35. Sitzung 1956, II. Bd. Nr. 9 S. 294) ist nicht erkennbar, wie die Mehrdeutigkeit dieser Fassung zustande gekommen ist und ob der Gesetzgeber die unterschiedlich gestaltete Vergünstigung für Eigentumswohnungen gegenüber den vom Begriff „Wohngebäude” umfaßten Einfamilienhäusern hinsichtlich der Eigennutzungsnotwendigkeit bzw. Fremdnutzungsmöglichkeit ausdrücklich in Kauf genommen hat. Eindeutig und klar abgegrenzt ist dagegen der hier maßgebende Tatbestand des § 1 Nr. 6 LG 1953 bzw. § 1 Nr. 11 LG 1956 von Anfang an. Nur ebenso eindeutig können die Vorstellungen des Gesetzgebers über den bewußt eingeschränkten Vergünstigungsrahmen gewesen sein. Eine „verfassungskonforme erweiternde” Auslegung des § 1 Nr. 11 LG 1956 unter Außerachtlassung der Eigennutzungsklausel ist somit nicht statthaft.

Die Nichtigkeit des ganzen § 1 Nr. 11 LG 1956 ist weder behauptet oder erstrebt, noch feststellbar. Eher könnten bereits nach Vorstehendem Zweifel an der Gültigkeit des § 1 Nr. 10 LG 1956 auftauchen. Denn jedenfalls ist folgendes entscheidend:

Es kann nicht zweifelhaft sein, daß § 1 Nr. 6 LG 1953 weder in sich noch im Hinblick auf § 1 Nr. 5 LG 1953 gegen den Gleichheitssatz verstieß. Die Eigennutzungsklausel findet sich in beiden Vorschriften, in § 1 Nr. 5 LG 1953 über § 3 Abs. 3 LG 1953 in Verbindung mit § 7 des Ersten Wohnungsbaugesetzes (I. WoBauG) mit der Maßgabe, daß von zwei Wohnungen des Eigenheims die eine für den Eigentümer bestimmt war, das heißt zum Bewohnen durch den Eigentümer oder seine (nächsten Familien-) Angehörigen (vgl. § 20 Abs. 1, 3 des I. WoBauG, § 9 des II. WoBauG). Diese Vorschriften waren ersichtlich sachgerecht. War aber § 1 Nr. 6 LG 1953 wirksam, so war er es auch als § 1 Nr. 11 in der Fassung des LG 1956 weiterhin geblieben, selbst wenn sich nachträglich eine Ungleichheit durch ein späteres Änderungsgesetz daraus ergeben haben sollte, daß für andere Wohneinheiten eine Eigennutzung nicht gefordert wurde. Insoweit könnte sich eine Nichtigkeit möglicherweise nur auf die durch das Änderungsgesetz – hier das Änderungsgesetz 1956 – neu eingeführte Vorschrift – hier des an die Stelle des § 1 Nr. 5 LG 1953 getretenen § 1 Nr. 10 LG 1956 – erstrecken. Es gilt auch hier – in abgewandelter Form – der Satz, daß bei Nichtigkeit einer Änderungsvorschrift die alte Vorschrift weitergilt, da eine nichtige Norm nicht die Kraft haben kann, eine wirksame Norm zu beseitigen (vgl. die Nachweise in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei Maunz/Sigloch/Schmidt-Bleibtreu/Klein, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, § 80 Tz. 65 zu 7 c, auch Tz. 130). Selbst wenn anderen Ersterwerbern also gemäß § 1 Nr. 10 LG 1956 gleichheitswidrig ein Vorteil gewährt worden wäre, so könnte dieser mit dem Ersterwerb von Eigentumswohnungen ausdrücklich und eindeutig nicht gewährte Vorteil (der Fremdnutzungsmöglichkeit) durch die Gerichte nicht gewährt werden, da – wie bereits dargelegt – eine „verfassungskonforme erweiternde” Auslegung des § 1 Nr. 11 LG 1956 durch die Rechtsprechung nicht zulässig ist.

Zwar ist zur Aussetzung der Vollziehung gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 2 Satz 2 FGO eine überwiegende Erfolgsaussicht der Klage nicht zu fordern (Beschluß des BFH II B 17/67 vom 24. Oktober 1967, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Bd. 90 S. 532 – BFH 90, 532 –, BStBl II 1968, 229). Andererseits verlangen ernstliche Zweifel im Sinne des § 69 FGO das Vorliegen gewichtiger Gründe, so daß ein nicht nur geringer Grad von Wahrscheinlichkeit dafür spricht, der angefochtene Verwaltungsakt sei rechtswidrig (Beschluß des BFH III B 21/66 vom 30. Juni 1967, BFH 89, 92, 98, BStBl III 1967, 533). Das Vorliegen solcher gewichtigen Gründe, die eine für die Aussetzung der Vollziehung ausreichende Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Steuerbescheids hervorrufen könnten (Beschluß des BFH III B 9/66 vom 10. Februar 1967, BFH 87, 447, 450, 451, BStBl III 1967, 182) und somit hinreichende Erfolgsaussichten der Klage sind vielmehr aus den vorstehenden Rechtserwägungen zu verneinen.

 

Fundstellen

BFHE 1970, 262

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