Richter sind nicht nur in ihren Entscheidungen, sondern auch in ihrer Arbeitsweise frei. Niemand kann sie daran hindern, im Laufe eines Rechtsstreits im Vorgriff auf den Ausgang des Verfahrens bereits einen Urteilsentwurf zu fertigen. Mit der Vorabübersendung solcher Urteilsentwürfe an die Prozessparteien, sollten Gerichte aber vorsichtig sein. Andernfalls könnte bei den Beteiligten leicht der Eindruck der Voreingenommenheit entstehen.
Räumungsurteil schon vor der Beweisaufnahme
Vor dem Landgericht stritten die Parteien um die Räumung und Herausgabe eines Gartengrundstücks. Die Beklagten des Rechtsstreits staunten nicht schlecht, als ihrem Anwalt bereits vor Durchführung der in Aussicht gestellten Beweisaufnahme das Urteil der Einzelrichterin übermittelt wurde, mit dem sie zur Herausgabe und Räumung des Gartengrundstücks verurteilt wurden.
Urteilsentwurf versehentlich vorab übersandt
Die Übersendung beruhte auf einem Versehen. Es handelte sich um einen von der Einzelrichterin signierten Urteilsentwurf mit vollständigem Rubrum und komplett ausformuliertem Tenor, der die Verurteilung der Beklagten zur Räumung und Herausgabe beinhaltete. Auch die Kostenentscheidung zum Nachteil der Beklagten war bereits enthalten.
Befangenheitsantrag folgte prompt
Am Folgetag bemerkte die Vorsitzende Richterin den Irrtum und teilte dies den Beteiligten mit. Darauf lehnte der Beklagtenvertreter die Vorsitzende Richterin wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Die von ihm vertretenen Beklagten könnten infolge der vorweggenommenen Verurteilung nicht mehr von einer Unbefangenheit des Gerichts ausgehen. Außerdem enthalte der anschließend vom Gericht übersandte Beweisbeschluss sachfremde und willkürliche Erwägungen.
LG sieht für die Beklagten keinerlei Grund zur Sorge
Zum Erstaunen der Beklagten wies das LG den Ablehnungsantrag als unbegründet zurück. Die Übersendung eines Urteilsentwurfs mit ausformuliertem Tenor war nach Auffassung des LG nicht geeignet, bei der „unterlegenen“ Partei den Eindruck der Voreingenommenheit des Gerichts hervorzurufen. Die Vorsitzende Richterin habe das Versehen nachvollziehbar erklärt. Ein solcher Urteilsentwurf könne jederzeit abgeändert und dem jeweiligen Verfahrensstand angepasst werden und enthalte keinerlei Vorfestlegung des Gerichts. Jegliche diesbezüglichen Sorgen der Beklagten seien völlig unbegründet.
OLG zeigte Verständnis für Besorgnis der Befangenheit
Die sofortige Beschwerde gegen die Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs war beim OLG erfolgreich. Das OLG zeigte Verständnis für die Auffassung der Beklagten, ein Gericht, das bereits eine Verurteilung zur Räumung formuliert habe, sei im weiteren Verfahren nicht mehr unvoreingenommen. Das durch die Übersendung des Urteilsentwurfs entstandene nachvollziehbare Misstrauen gegenüber der Vorsitzenden Richterin werde durch deren nachträgliche Erläuterungen und Erklärungsversuche nicht ausgeräumt. Der in diesem Fall auch bei einer vernünftig denkenden Prozesspartei entstehende Eindruck, das Gericht habe sich bereits in seiner Entscheidung festgelegt, sei plausibel und im Nachhinein nicht mehr zu beseitigen.
Misstrauen gegen Unparteilichkeit der Richterin gerechtfertigt
Dass die von der Vorsitzenden Richterin gewählte Arbeitsweise tatsächlich nicht ganz unüblich ist und ein interner Entscheidungsentwurf keine Festlegung der Vorsitzenden Richterin beinhaltet, war für den Senat unerheblich. Entscheidend sei, dass die versehentliche Übersendung des bereits signierten Urteilsentwurfs mit ausformuliertem Tenor objektiv geeignet ist, auf Seiten der Beklagten Misstrauen in eine unparteiliche Amtsausübung der abgelehnten Richterin zu generieren und den Eindruck zu erwecken, das weitere Verfahren diene nur noch dem Zweck, die bereits getroffene Entscheidung besser zu begründen.
Böser Schein der Voreingenommenheit rechtfertigt Richterablehnung
Im Ergebnis hatte der Befangenheitsantrag wegen des durch die Vorabübersendung des signierten Urteils entstandenen bösen Scheins einer Voreingenommenheit des Gerichts daher Erfolg.
(OLG Frankfurt, Beschluss v. 4.6.2025, 9 W 13/25