[8] "… Die zulässige Berufung der Kl. ist teilweise begründet. Das Urteil des AG beruht auf einer Rechtsverletzung und die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen rechtfertigen eine andere Entscheidung (§ 513 Abs. 1 ZPO)."

[9] 1. Zu Recht ist das Erstgericht allerdings zunächst davon ausgegangen, dass sowohl die Bekl. als auch die Kl. grds. für die Folgen des streitgegenständlichen Unfallgeschehens gem. §§ 7, 17 Abs. 1, 2 StVG i.V.m. § 115 WG einzustehen haben, weil die Unfallschäden jeweils bei dem Betrieb eines Kfz entstanden sind, der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen ist und für keinen der beteiligten Fahrer ein unabwendbares Ereignis i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG darstellte.

[10] a) Die Bekl. weisen zwar zutreffend darauf hin, dass die Halterhaftung gem. § 7 Abs. 1 StVG und die Haftung des Fahrers aus vermutetem Verschulden gem. § 7 Abs. 1 i.V.m. § 18 StVG nicht eingreifen, wenn ein in Betrieb befindliches Kfz lediglich an der Unfallstelle anwesend ist, ohne dass es durch seine Fahrweise (oder sonstige Verkehrsbeeinflussung) zu der Entstehung des Schadens beigetragen hat. Voraussetzung für die Zurechnung des Betriebs des Kfz zu einem schädigenden Ereignis ist vielmehr, dass über die bloße Anwesenheit an der Unfallstelle hinaus das Fahrverhalten seines Fahrers in irgendeiner Art und Weise das Fahrmanöver des Unfallgegners beeinflusst hat, mithin, dass das Kfz durch seine Fahrweise (oder sonstige Verkehrsbeeinflussung) zu der Entstehung des Schadens beigetragen hat. Maßgeblicher Zeitpunkt für Ursächlichkeit und Zurechnungszusammenhang ist dabei der Eintritt der konkreten kritischen Verkehrslage, die unmittelbar zum Schaden führt. Die kritische Verkehrslage beginnt für einen Verkehrsteilnehmer dann, wenn die ihm erkennbare Verkehrssituation konkreten Anhalt dafür bietet, dass eine Gefahrensituation unmittelbar entstehen kann (zu allem BGH, Urt. v. 22.11.2016 – VI ZR 533/15, VersR 2017, 311 m.w.N.).

[11] b) Anders als die Bekl. meinen, ist der Unfall aber nach diesen Grundsätzen dem Betrieb des Beklagtenfahrzeugs zuzurechnen. Eine kritische Verkehrslage war nämlich im Streitfall dadurch eingetreten, dass das Müllfahrzeug sich in Rückwärtsfahrt auf die Zeugin (…) zubewegte. Erst aufgrund dieser Verkehrssituation sah sich die Zeugin ihrerseits zum Rückwärtsfahren veranlasst. Das Fahrmanöver des Erstbeklagten war danach – unstreitig – alleiniger Beweggrund für das Fahrverhalten der Zeugin. (…) Auf die Frage, ob die Zeugin dabei objektiv richtig oder subjektiv vertretbar gehandelt hat, kommt es insoweit nicht an. Anders als früher teilweise vertreten (vgl. hierzu die Nachweise bei Laws/Lohmeyer/Vinke, in: Freymann/Wellner, jurisPK-StrVerkR, 1. Aufl., § 7 StVG Rn 35 ff.), wird die Haftungszurechnung nicht dadurch in Frage gestellt, dass das Verhalten des geschädigten Verkehrsteilnehmers objektiv nicht erforderlich war. Auch ist nicht erforderlich, ob die Reaktion des Geschädigten aus seiner Sicht, also subjektiv erforderlich war oder sich gar für ihn als die einzige Möglichkeit darstellte, um eine Kollision zu vermeiden (BGH a.a.O.; Laws/Lohmeyer/Vinke, a.a.O., jeweils m.w.N.).

[12] 2. Im Rahmen der danach gebotenen Haftungsabwägung gem. § 17 Abs. 1, 2 StVG ist zulasten der Bekl. ein Mitverschulden zu berücksichtigen. Denn der Erstbeklagte hat den Unfall durch einen Verstoß gegen die Pflichten beim Rückwärtsfahren verursacht (§ 9 Abs. 5 StVO).

[13] a) Da der Erstbeklagte rückwärts fuhr, hatte er gegenüber der hinter ihm stehenden Zeugin (…) die Sorgfalt nach § 9 Abs. 5 StVO zu beachten. Dabei kommt es im Streitfall – anders als die Bekl. meinen – nicht auf die konkrete Entfernung des klägerischen Fahrzeugs zum Müllfahrzeug der Kl. an. Denn § 9 Abs. 5 StVO dient dem Schutz des gesamten rückwärtigen Verkehrs und soll sicherstellen, dass jegliche Gefährdung dieses Verkehrs ausgeschlossen bleibt. Deshalb ist anerkannt, dass nur rückwärts gefahren werden darf, wenn der gesamte überblickbare rückwärtige Raum mit Gewissheit gefahrlos befahren werden darf (vgl. stellv. nur OLG Düsseldorf, Urt. v. 23.2.2016 – 1 U 79/15, juris; Schölten, in: jurisPK-StrVerkR, 1. Aufl., § 9 StVO Rn 63, jeweils m.w.N.). Dass das klägerische Fahrzeug aber zum erkennbaren rückwärtigen Verkehrsraum gehörte, stellt auch die Beklagtenseite nicht in Abrede.

[14] b) Ob – wie die Berufung meint – ein Verstoß gegen § 9 Abs. 5 StVO hier aus den Regeln über den Anscheinsbeweis abgeleitet werden kann, erscheint fraglich (zur Anwendung des Anscheinsbeweises, wenn es nicht zur Berührung mit dem Fahrzeug des Unfallverursachers kommt, vgl. BGH, Urt. v. 16.6.1959 – VI ZR 140/58, VersR 1959, 792; KG NZV 2000, 43; KG-Report 2000, 316; OLG München, Urt. v. 16.9.2005 – 10 U 2787/05, NZV 2005, 582; v. 8.10.2010 – 10 U 2128/10, juris; v. 7.10.2016 – 10 U 767/16, juris; OLG Düsseldorf NZV 2006, 415; Urt. v. 21.9.2010 – 1 U 231/09, juris Rn 8; OLG Celle Schaden-Praxis 2015, 292; OLG Hamm NJW-RR 2017, 281; OLG Frankfurt DAR 2000, 478; OLG Naumburg VerkMitt 2012...

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