[…] II. Der Einzelrichter des Senats überträgt die Sache gemäß § 80a Abs. 3 S. 1 OWiG auf den Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern, da es geboten ist, das angefochtene Urteil zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung nachzuprüfen.

In der höchst- und obergerichtlichen Rechtsprechung ist umstritten, ob und in welchem Ausmaß es das Recht des Betroffenen auf ein faires Verfahren aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG gebietet, ihm die zu einem Messvorgang existierenden Rohmessdaten, die nicht Bestandteil der Bußgeldakte geworden sind, insbesondere die Daten der gesamten Tagesmessreihe, zur Einsichtnahme zur Verfügung zu stellen. Eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs zu dieser Frage liegt bislang nicht vor, wäre jedoch zu begrüßen.

III. Die im Tenor formulierte Rechtsfrage ist für die Entscheidung in vorliegender Sache erheblich.

Die Rügen der Verletzung des fairen Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) und der unzulässigen Beschränkung der Verteidigung (§ 79 Abs. 1 S. 1 OWiG i.V.m. § 338 Nr. 8 StPO) ist zulässig erhoben worden, allerdings nur im Hinblick auf die unterbliebene Einsichtnahmemöglichkeit in die noch vorhandenen Messdateien der Tagesmessreihe (dazu nachfolgend 1.).

Wäre die vom Senat formulierte Vorlagefrage zu bejahen, dann wäre der Rechtsbeschwerde des Betroffenen stattzugeben, das angefochtene Urteil des AG Alzey vom 1.3.2021 aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht zurück zu verweisen (dazu nachfolgend 2.).

Ist die Rechtsfrage hingegen zu verneinen, so ist das Rechtsmittel als unbegründet zu verwerfen und dem Betroffenen sind die Kosten hierfür aufzuerlegen, da – unbeschadet einer eventuell vorzunehmenden Schuldspruchberichtigung im Hinblick auf die subjektive Tatbestandsseite (vorsätzliche statt fahrlässige Begehungsweise) – eine Verletzung des materiellen Rechts zum Nachteil des Betroffenen nicht gegeben ist.

1. Die Verfahrensrügen der Verletzung des fairen Verfahrens (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) und der unzulässigen Beschränkung der Verteidigung (§ 79 Abs. 1 S. 1 OWiG i.V.m. § 338 Nr. 8 StPO) hat der Betroffene mit der Beanstandung zulässig erhoben, ihm sei die Einsicht in die komplette Messreihe des Messtages – des 31.3.2020 – versagt worden, obwohl er dies sowohl im Verfahren vor der Bußgeldbehörde als auch im gerichtlichen Verfahren beantragt und geltend gemacht habe. Nur insoweit trägt die Rechtsbeschwerde die den behaupteten Mangel enthaltenen Tatsachen schlüssig im Sinne von § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG i.V.m. § 344 Abs. 2 S. 2 StPO vor.

Soweit sich der Rügevortrag auch auf weitere "Rohmessdaten" und Unterlagen bezieht, ist die Rüge nicht zulässig erhoben.

Dies folgt zwar nicht schon aus dem Umstand, dass der vom Verteidiger formulierte Einsichtsanspruch in Dateien und Unterlagen des Messverfahrens Vitronic PoliScan Speed gerichtet war, das vorliegend gar nicht eingesetzt wurde. Hierbei handelt es sich um ein offensichtliches Schreibversehen, das den sachlichen Inhalt des Einsichtsbegehrens unberührt lässt, da entsprechende Unterlagen und Dateien auch für das Messverfahren ES 3.0 existieren bzw. geführt werden.

Die Rüge lässt jedoch unberücksichtigt bzw. verschweigt, dass die Statistikdatei sowie die Gebrauchsanweisung für das hier verwendete Messgerät auf der dem Verteidiger von der Bußgeldbehörde zur Verfügung gestellten CD enthalten waren (vgl. Bl. 47 d.A.), dem Betroffenen somit bereits zur Verfügung gestellt wurden.

Was die Caselist-Datei, die Wartungs-, Instandsetzungs- und Eichunterlagen sowie die Konformitätsbescheinigung für das Messgerät betrifft, so hat der Betroffene sein dahingehendes Informationsbedürfnis nach dem Beschluss des AG vom 7.10.2020 (Bl. 59 f. d.A.) nicht mehr in einer auf eine sachgerechte Prozessführung bedachten Weise weiter verfolgt. Die genannte Entscheidung verhält sich – wie dargestellt – nur zu der Frage, ob der Betroffene einen Anspruch auf Übersendung der Rohmessdaten der gesamten Messreihe des Tattages hat; über eine Herausgabe weiterer Dateien und Unterlagen hat das Amtsgericht dagegen nicht entschieden. Obwohl er also bereits einen Teil der verlangten Dateien und Unterlagen erhalten hatte und über einen anderen Teil der amtsgerichtliche Beschluss ergangen war, hat der Betroffene im Gerichtsverfahren nur undifferenziert und pauschal sein ursprüngliches, auf "komplette Akteneinsicht" gerichtetes Auskunftsverlangen aus dem Verteidigerschriftsatz vom 8.7.2020 weiter geltend gemacht (vgl. Schriftsatz v. 30.11.2020, Bl. 76 d.A.). Er hätte sich hier schon die Mühe machen müssen, konkret aufzulisten, welche Dateien und Unterlagen ihm zu diesem Zeitpunkt noch fehlten. Denn ein Anspruch auf Zugang zu außerhalb der Akte befindlichen Informationen setzt in formeller Hinsicht zunächst voraus, dass die begehrten Informationen hinreichend und konkret benannt werden (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18, Rn ...

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