Es bleibt festzuhalten, dass die Feststellung möglicher Überlagerungen der Vermächtnisregeln durch Pflichtteilsvorschriften in den Fällen kumulativer Anordnung von Vermächtnis und Pflichtteil die Ermittlung des Erblasserwillens voraussetzt, es also doch darauf ankommen muss, ob der Erblasser erkennbar pflichtteilsrechtliche Grundsätze ganz oder teilweise angewendet wissen wollte. Diese Auslegungsarbeit bleibt dem Richter und dem Anwalt nicht erspart. Der entgegen § 2307 Abs. 1 Satz 2 BGB neben dem Vermächtnis belassene Pflichtteil ist ein Sonderfall, auf den das zur Unterscheidung zwischen bloßer Pflichtteilsverweisung und Vermächtnis entwickelte Abgrenzungskriterium beschränkender oder gewährender Erblasserwille nicht passt, denn nach diesem Kriterium steht das Auslegungsergebnis ohne weitere Überlegung von vorneherein fest. In der Zuwendung eines Vermächtnisses neben dem Pflichtteil liegt ausnahmslos eine gewährende Verfügung, nicht nur in dem zusätzlich gewährten Vermächtnis selbst, sondern auch in dem daneben belassenen Pflichtteil. Der Bedachte wird eben nicht auf den bloßen Pflichtteil verwiesen. Im Unterschied zu einer bloßen Pflichtteilsverweisung kann es bei einer Kumulation von Pflichtteil und Vermächtnis nur um eine mehrfache Begünstigung gehen, für deren rechtliche Bestimmung das Abgrenzungskriterium Begünstigungswille ja oder nein nicht taugt.

Zu fragen ist vielmehr danach, wie weit der Erblasser den Bedachten begünstigen und damit zugleich den Erben beschränken wollte. Auch wenn der Erblasser im Regelfall die Vermächtniskürzungsvorschriften nicht kennt, hat er doch allgemeine Vorstellungen davon, wie weit der Bedachte mit seinem Pflichtteil und einem Vermächtnis begünstigt werden soll. Wusste er im Beispielsfall 1, dass der Pflichtteil aus dem vollen Nachlasswert von 300.000,00 EUR berechnet wird, wollte er damit zugleich eine mehrfache Begünstigung, indem der Pflichtteil auch aus dem Vermächtniswert berechnet wird und damit die Erbin E entgegen Sinn und Zweck des § 2318 BGB keinen Ausgleich dafür erhalten soll, dass für die Pflichtteilsberechtigung das Vermächtnis als nachrangig vom Nachlasswert nicht abgezogen werden kann?

Dies dürfte ebenso wenig seinem Willen entsprochen haben, wie er – von einer missgünstigen Erbeinsetzung abgesehen – die eingesetzte Erbin E zur Ausschlagung der Erbschaft nach § 2306 Abs. 1 Satz 2 BGB aF oder zur Ausübung ihres Wahlrechts zugunsten des Pflichtteils nach § 2306 BGB nF zwingen wollte. Ein dahingehender Wille könnte nur dann angenommen werden, wenn der Erblasser auch das Vermächtniskürzungsrecht durch eine abweichende Anordnung nach § 2324 BGB ausschließen oder beschränken wollte. Lässt sich aber letzteres durch Auslegung nicht ermitteln, ist das Grundstücksvermächtnis in Ansehung des eigenen Pflichtteils des V verhältnismäßig um 45.000,00 EUR auf 135.000,00 EUR zu kürzen, um dem Erblasserwillen gerecht zu werden.

Weiß der Erblasser hingegen nicht, dass der Pflichtteil aus dem gesamten Nachlasswert von 300.000,00 EUR berechnet wird, und meint er, der Pflichtteil berechne sich aus dem Restnachlass von 120.000,00 EUR nach Abzug des Grundstücksvermächtniswerts, betrage also 1/4 aus 120.000,00 EUR = 30.000,00 EUR, ist der Zuwendungsgegenstand nicht identisch mit dem Pflichtteil, sondern ein "Weniger" und damit ein zusätzliches Vermächtnis, sodass V im Ergebnis zusammen mit dem Grundstücksvermächtnis ebenfalls einen Wert von 210.000,00 EUR erhält.[25]

Die gleichen Überlegungen stellen sich im Fall 2. Eine richtige Vorstellung über die Berechnung des Pflichtteils unterstellt, ist im Fall 2 darüber hinaus zu fragen, welche Vorstellungen der Erblasser zur Verteilung der Pflichtteilslast Y hatte. Hat er das Vermächtniskürzungsrecht nicht ausgeschlossen oder eingeschränkt, bleibt es zunächst bei der Regel des § 2318 Abs. 1 BGB, wonach sich V die Kürzung des Grundstücksvermächtnisses in Ansehung des Pflichtteils Y gefallen lassen muss, er also neben dem gekürzten Grundstücksvermächtniswert von 150.000,00 EUR seinen eigenen Pflichtteil von 50.000,00 EUR, insgesamt also 200.000,00 EUR erhält und damit nahezu denselben Wert wie im Fall 1 mit einem Pflichtteil von 75.000,00 EUR. Soll er sich nach der Vorstellung des Erblassers darüber hinaus eine Kürzung des Grundstücksvermächtnisses in Ansehung des eigenen Pflichtteils um weitere 30.000,00 EUR auf 120.000,00 EUR gefallen lassen müssen, erhielte V zusammen mit seinem Pflichtteil von 50.000,00 EUR insgesamt 170.000,00 EUR, oder soll er sich nach der Vorstellung des Erblassers mit der insgesamten Zuwendung von 230.000,00 EUR (180.000,00 EUR Grundstücksvermächtnis + 50.000,00 EUR Pflichtteilsvermächtnis) im Verhältnis zum Gesamtwert des Nachlasses von 300.000,00 EUR an der Pflichtteilslast Y mit einem Betrag von 38.333,33 EUR beteiligen, sodass er 191.666,67 EUR erhielte?

Diese Auslegungsarbeit mag schwierig sein, ist aber zu leisten. Für die Ermittlung, inwieweit der Erblasser Vermächtnisvorschriften oder pflichtteilsrechtliche V...

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