Der Zugang einer unter Abwesenden abgegebenen Willenserklärung setzt zweierlei voraus: Die Willenserklärung muss (1.) in den Machtbereich des Empfängers gelangen und dieser muss (2.) unter gewöhnlichen Umständen von der Willenserklärung Kenntnis nehmen können (vgl. nur BGH NJW 2019, 2469, 2470 m.w.N.).

Zum Machtbereich des Empfängers gehören insb. sein E-Mail-Server und andere Empfangseinrichtungen wie Briefkasten, Anrufbeantworter und Telefaxgerät. Um in den Bereich des Empfängers zu gelangen, müssen die gesendeten Signale von der Einrichtung vollständig empfangen bzw. gespeichert werden (zum Telefaxgerät BGH NJW 2007, 2045 Rn 12). Zugangsvoraussetzung einer jeden E-Mail ist daher, dass sie auf dem Server des Empfängers gespeichert wird. Ob sie dort in den Spam-Ordner gelangt, ist dagegen unerheblich (zutr. LG Bonn MMR 2014, 709; a.A. OLG Hamm NJW 2022, 1822; ausf. Wertenbruch, JuS 2020, 481, 484).

Bislang nicht höchstrichterlich geklärt war die Frage, wann mit der Kenntnisnahme einer E-Mail durch den Empfänger unter gewöhnlichen Umständen gerechnet werden kann. Für den unternehmerischen Geschäftsverkehr innerhalb der üblichen Geschäftszeiten hat der BGH nun Klarheit geschaffen: Die E-Mail geht unmittelbar in dem Zeitpunkt zu, in dem sie abrufbereit auf dem Server gespeichert wird. Dass der Empfänger die E-Mail tatsächlich zur Kenntnis nimmt, ist nicht erforderlich (so bereits OLG München NZBau 2012, 460, 461; a.A. OLG Hamm NJW 2022, 1822). Hierdurch ist ein rechtzeitiger Widerruf während der Geschäftszeiten versandter E-Mail-Erklärungen praktisch ausgeschlossen. Bei Vergleichsverhandlungen – und generell im unternehmerischen Geschäftsverkehr – ist daher besondere Vorsicht geboten. Gleichwohl verdient die Annahme eines unmittelbaren Zugangs aus Gründen der Rechtssicherheit Zustimmung.

Wird die E-Mail hingegen zur „Unzeit” außerhalb der üblichen Geschäftszeiten auf dem Server gespeichert, geht sie erst am nächsten Werktag zu. Maßgeblich ist erneut der Beginn der üblichen Büro- oder Geschäftszeit (zutr. OLG Düsseldorf BeckRS 2012, 5968: E-Mail nach 21 Uhr; BeckOK BGB/Wendtland, § 130 Rn 15).

Auf den Zugang gegenüber Privatleuten finden diese Grundsätze keine Anwendung. Von ihnen kann nicht erwartet werden, dass sie ihr privates E-Mail-Postfach ständig überwachen. Wohl aber kann eine tägliche Kontrolle der Eingänge vorausgesetzt werden, sodass von einem Zugang regelmäßig am nächsten Tag auszugehen ist (BeckOK BGB/Wendtland, § 130 Rn 15; BeckOGK/Gomille, § 130 Rn 75; MüKo/Einsele, § 130 Rn 19).

Die Darlegungs- und Beweislast für den Zugang der E-Mail trägt derjenige, der sich auf den Zugang beruft (OLG Saarbrücken NJW 2004, 2908, 2909). Der im gegenständlichen Fall unstreitige Zugang der E-Mail lässt sich durch Vorlage einer entsprechenden Lesebestätigung nachweisen (BGH NJW 2014, 556 Rn 11 f.; BeckOK BGB/Wendtland, § 130 Rn 35).

ZAP F. 2, S. 67–68

Von Prof. Dr. Martin Henssler und Referent Thomas Sossna, Institut für Anwaltsrecht, Universität zu Köln

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