4.7.4.1.1 Allgemeines

 

Rz. 837

Die Dauer der Betriebszugehörigkeit ist ein betriebsbezogenes Sozialdatum von erheblichem Gewicht und verleiht dem Arbeitsplatz besonderen Schutz (vgl. auch BAG, Urteil v. 19.5.1993, 2 AZR 584/92[1]). Grund dafür ist, dass mit zunehmender Betriebszugehörigkeit regelmäßig auch der Beitrag, den der Arbeitnehmer zum Wert des Unternehmens leistet, wächst. Zudem nimmt im Allgemeinen die persönliche Bindung des Arbeitnehmers an den Betrieb zu, die sich etwa durch die Wahl eines Wohnorts in der Nähe des Arbeitsplatzes und der Entwicklung von Freundschaften und Lebensgewohnheiten äußern kann. Die Beendigung eines Arbeitsverhältnisses trifft deshalb den langjährig beschäftigten Arbeitnehmer oft besonders hart (s. aber auch BAG, Urteil v. 5.12.2002, 2 AZR 549/01[2]). Der soziale Gesichtspunkt der "Betriebszugehörigkeit" dient ferner dazu, die Treue des Arbeitnehmers zum Arbeitgeber zu werten (BAG, Urteil v. 2.6.2005, 2 AZR 158/04[3]). Allerdings ist die Betriebszugehörigkeit als Sozialdatum im Rahmen der Auswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG nicht mit derjenigen Zeitspanne identisch, die ein Arbeitnehmer in demselben Betrieb arbeitet: Ausschlaggebend ist vielmehr die Beschäftigung bei demselben Arbeitgeber, auch wenn sie in verschiedenen Betrieben stattfand. Die genannten wirtschaftlichen und sozialen Bindungen können nämlich auch betriebsunabhängig entstehen, z. B. wenn der Arbeitgeber mehrere Betriebe in räumlicher Nähe führt. Insofern können zur Berechnung der Dauer der Betriebszugehörigkeit die Grundsätze zur Bestimmung der Wartezeit nach § 1 Abs. 1 KSchG herangezogen werden, für die der ununterbrochene rechtliche Bestand des Arbeitsverhältnisses mit demselben Arbeitgeber entscheidend ist (BAG, Urteil v. 20.8.1998, 2 AZR 83/98[4]). Es ist insoweit angemessen auf die Dauer der Unternehmenszugehörigkeit abzustellen (BAG, Urteil v. 2.6.2005, 2 AZR 158/04[5]). Eine entsprechende Wertung findet sich auch in § 10 KSchG, der bei der Bestimmung der Höhe der Abfindung nach der Dauer des Arbeitsverhältnisses differenziert. Bei der Sozialauswahl können demnach – ebenso wie bei der Berechnung der Wartezeit – auch frühere Beschäftigungszeiten berücksichtigt werden (BAG, Urteil v. 6.2.2003, 2 AZR 623/01[6]). Nach neuerer Rechtsprechung des BAG kann die Wartezeit nach § 1 Abs. 1 KSchG im Übrigen auch durch solche Zeiten einer Beschäftigung erfüllt werden, die in demselben Betrieb oder Unternehmen geleistet worden sind. Unschädlich ist es in diesem Zusammenhang, sofern innerhalb des 6-Monats-Zeitraums 2 oder mehr Arbeitsverhältnisse liegen, welche ohne zeitliche Unterbrechung unmittelbar aufeinanderfolgen, sodass typischerweise von einem "ununterbrochenen" Arbeitsverhältnis auszugehen ist, wenn sich die Beschäftigungszeit des Arbeitnehmers nahtlos fortsetzt (BAG, Urteil v. 7.7.2011, 2 AZR 12/10[7]

).

[1] BAGE 73, 151.
[2] NZA 2003 S. 791.
[3] NZA 2005 S. 1175.
[4] BAGE 89, 307; ferner BAG, Urteil v. 16.2.1995, 8 AZR 714/93, BAG 79, 193; KR/Rachor, 13. Aufl. 2022, § 1 KSchG, Rz. 115; SPV/Preis, 11. Aufl. 2015, Rz. 1079.
[5] NZA 2005 S. 1175.
[6] EzA Nr. 51 zu § 1 KSchG Soziale Auswahl.

4.7.4.1.2 Vertragliche Zusicherung von Beschäftigungszeiten

 

Rz. 838

Ferner können Arbeitgeber und Arbeitnehmer vertraglich vereinbaren, dass frühere Beschäftigungszeiten bei demselben Arbeitgeber bzw. Beschäftigungszeiten bei einem anderen Unternehmen, die eigentlich nicht anrechnungsfähig sind, im Rahmen der Sozialauswahl unter dem Gesichtspunkt der Dauer der Betriebszugehörigkeit zu berücksichtigen sind (BAG, Urteil v. 2.6.2005, 2 AZR 480/04[1]). Hierbei sind jedoch Grenzen zu beachten: Es bedarf eines sachlichen Grundes.

 

Rz. 839

Ruhende Arbeitsverhältnisse sind bei der Bestimmung der Dauer der Betriebszugehörigkeit ebenfalls zu berücksichtigen, da das Arbeitsverhältnis, wenn es ruht, nichtsdestotrotz fortbesteht.[2]

 
Hinweis

Die sich zulasten anderer Arbeitnehmer auswirkende Individualvereinbarung darf nicht rechtsmissbräuchlich sein und nur die Umgehung der Sozialauswahl bezwecken. Für eine Berücksichtigung der vertraglich vereinbarten Betriebszugehörigkeitszeiten muss ein sachlicher Grund vorliegen. Ein solcher ist ohne Weiteres anzunehmen, wenn der Berücksichtigung früherer Beschäftigungszeiten ein arbeitsgerichtlicher Vergleich wegen eines streitigen Betriebsübergangs zugrunde liegt (BAG, Urteil v. 2.6.2005, 2 AZR 480/04[3]).

[1] EzA-SD 2005, Nr. 24, 14.
[2] KR/Rachor, 13. Aufl. 2022, § 1 KSchG, Rz. 731 m. w. N.
[3] NZA 2007 S. 207; für weitere Beispiele siehe APS/Kiel, 6. Aufl. 2021, § 1 KSchG Rz. 634.

4.7.4.1.3 (Teil-)Betriebsübergang

 

Rz. 840

Auch im Fall eines Betriebsübergangs gem. § 613a BGB sind die Beschäftigungszeiten der Arbeitnehmer im früheren (übergegangenen) Betrieb zu berücksichtigen. Die Vorschrift des § 613a Abs. 1 BGB setzt den rechtsgeschäftlichen Übergang eines Betriebs oder Betriebsteils auf einen anderen Inhaber unter Wahrung der Identität der betreffenden wirtschaftlichen Einheit voraus. Der Begriff der wirtschaftlichen Einheit bezieht sich dabei auf eine organisatorische Gesamtheit von Personen und Sachen,...

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