Rz. 697

Betriebliche Erfordernisse für eine Kündigung liegen nur vor, wenn der Arbeitgeber die unternehmerische Entscheidung auch umsetzt, d. h. wenn die Durchführung oder eingeleitete Durchführung der Entscheidung der Beschäftigungsmöglichkeit die Grundlage entzieht. Der Arbeitgeber handelt bei Ausspruch der Kündigung allerdings häufig im Vorgriff auf den Kündigungstermin. Insbesondere bei langen Kündigungsfristen hat der Arbeitgeber deutlich vor der Umsetzung eines unternehmerischen Konzepts, etwa einer Abteilungsstilllegung, die Kündigung auszusprechen. Sofern die Entscheidung nicht schon realisiert wurde, hat der Arbeitgeber daher im Kündigungsschutzprozess hinreichende Tatsachen vorzutragen, die dem Gericht die Prognose ermöglichen, dass zum Zeitpunkt des Kündigungstermins die Entscheidung realisiert sein wird.

 

Rz. 698

Das BAG fordert insoweit, dass die betrieblichen Umstände greifbare Formen angenommen haben müssen, um eine Kündigung auf die künftige Entwicklung der betrieblichen Verhältnisse stützen zu können (BAG, Urteil v. 20.11.2014, 2 AZR 512/13[1]; BAG, Urteil v. 29.8.2013, 2 AZR 809/12[2]). Solche greifbaren Formen werden angenommen, wenn im Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung aufgrund einer vernünftigen, betriebswirtschaftlichen Betrachtung davon auszugehen ist, im Zeitpunkt des Kündigungstermins sei mit einiger Sicherheit der Eintritt eines die Entlassung erforderlich machenden betrieblichen Grundes gegeben (BAG, Urteil v. 29.8.2013, 2 AZR 809/12[3]BAG, Urteil v. 27.11. 2003, 2 AZR 48/03[4]). Entscheidend ist, ob der Arbeitgeber die der Prognose zugrunde liegende Entscheidung bereits getroffen hat; das ist z. B. nicht der Fall, wenn er einen Stilllegungsbeschluss lediglich erwägt oder plant (BAG, Urteil v. 15.7.2004, 2 AZR 376/03[5]). Für die Greifbarkeit der Unternehmerentscheidung ist jedoch nicht erforderlich, dass sie nach außen kundgegeben wurde (BAG, Urteil v. 19.6.1991, 2 AZR 127/91[6]). So kann der Unternehmer gewichtige Gründe haben, warum er z. B. einen Stilllegungsentschluss seinen Kunden und Vertragspartnern vorerst nicht bekannt geben will.

 

Beispiel

(Nach BAG, Urteil v. 13.2.2008, 2 AZR 543/06[7])

Einem Rettungsdienst wird vom zuständigen Landkreis zum Ende des laufenden Kalenderjahres der Auftrag zur Durchführung der Rettungsdienste gekündigt, der mit 72 Rettungssanitätern und -assistenten durchgeführt wurde. Der Landkreis schreibt für den Beginn des Folgejahres den Auftrag neu aus; auch der bisherige Rettungsdienst bewirbt sich um die Fortführung des Auftrags. Noch vor Abschluss des Ausschreibungsverfahrens kündigt er den Arbeitnehmern vorsorglich zum Jahresende; nach Zugang der Kündigungen erhält der Arbeitgeber die Mitteilung, dass der Zuschlag einem anderen Anbieter erteilt wurde. In einem solchen Fall soll es nach der Rechtsprechung des BAG zum Zeitpunkt der Kündigungserklärungen noch an einem endgültigen Stilllegungsentschluss fehlen; solange eine Neuvergabe des Auftrags offen sei, könne eine zum Wegfall des Arbeitsplatzes führende vernünftige Prognose nicht angestellt werden.

 

Rz. 699

Der Arbeitgeber muss die Stilllegung beschlossen haben und diesen Beschluss in greifbaren Formen umsetzen. Dies erfordert in einer GmbH nicht zwingend einen wirksamen Gesellschafterbeschluss (BAG, Urteil v. 20.3.2013, 8 AZR 153/12[8]). Bei der Entlassung einer Vielzahl von Arbeitnehmern im Vorgriff auf eine Teilstilllegung wird man allerdings in dem Ausspruch der Kündigungen selbst bereits häufig eine Umsetzung der Unternehmerentscheidung sehen können. Nichts anderes nimmt das BAG bei der Umsetzung einer Betriebsteil- oder Betriebsstilllegung vor ordnungsgemäßer Beteiligung des Betriebsrats im Anwendungsbereich der §§ 111, 113 BetrVG an. Hier kann der Ausspruch von Kündigungen bereits den 1. Schritt zur Umsetzung der geplanten Betriebsänderung bedeuten, da es sich um nicht mehr umkehrbare Maßnahmen handelt (BAG, Urteil v. 30.5.2006, 1 AZR 25/05[9]; BAG, Urteil v. 22.7.2003, 1 AZR 541/02[10]).

[1] NZA 2015 S. 679.
[2] NZA 2014 S. 730.
[3] NZA 2014 S. 730.
[4] AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 64, NZA 2004 S. 477.
[5] AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 68, NZA 2005 S. 523.
[6] AP KSchG 1969 § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 53, NZA 1991 S. 891.
[7] AP KSchG 1969 § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 175; vgl. zum Fall eines Reinigungsauftrags auch BAG, Urteil v. 12.4.2002, 2 AZR 256/01, AP KSchG 1969 § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 120.
[8] AP KSchG 1969 § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 201.
[9] BB 2006 S. 1745.
[10] AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 42, NZA 2004 S. 93.

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