Das Wichtigste in Kürze:

1. Die Zuständigkeit der Großen Kammer ist nur in Ausnahmefällen gegeben und wird entweder durch Abgabe der Kammer oder nach Antrag eines Verfahrensbeteiligten auf Verweisung begründet.
2. Hierzu muss die Rechtssache entweder eine schwierige Frage der Auslegung oder Anwendung der Konvention oder der Protokolle dazu aufwerfen oder eine schwierige Frage von allgemeiner Bedeutung betreffen.
3. Die Große Kammer prüft die gesamte Sach- und Rechtslage erneut, Beschränkungen durch die Parteien sind nicht möglich.
4. Der Antrag auf Verweisung muss zunächst vom Ausschuss der Großen Kammer angenommen werden.
 

Rdn 368

 

Literaturhinweise:

Pabel, Die Rolle der Großen Kammer des EGMR bei Überprüfung von Kammer-Urteilen im Lichte der bisherigen Praxis, EuGRZ 2006, 3

Schlette, Europäischer Menschenrechtsschutz nach der Reform der EMRK, JZ 1999, 219

Wittinger, Die Einlegung einer Individualbeschwerde vor dem EGMR, NJW 2001, 1238

s.a. die Hinw. bei → Menschenrechtsbeschwerde, Allgemeines, Teil C Rdn 2.

 

Rdn 369

1.a) Das Verfahren vor der Großen Kammer ist in Art. 71 ff. VerfO-EGMR geregelt. Die Zuständigkeit der Großen Kammer wird entweder durch Abgabe (Art. 30 EMRK; vgl. Rdn 370) oder Verweisung (Art. 43 EMRK; vgl. Rdn 371 ff.) begründet.

 

Rdn 370

b) Bei der Abgabe der Sache verbleibt es bei einem einstufigen Verfahren, weil diese stets zu einem Zeitpunkt erfolgt, in dem noch kein Urteil der Kammer ergangen ist (Schlette JZ 1999, 224). Eine wesentliche formelle Voraussetzung für die Abgabe ist, dass keine der Parteien ihr widersprochen hat (Art. 30 EMRK). Der Einspruch ist schriftlich abzufassen, gebührend zu begründen und innerhalb eines Monats ab Datum der Kammermitteilung, die Rechtssache an die Große Kammer abgeben zu wollen, einzureichen (Art. 72 Abs. 2 VerfO-EGMR); anderenfalls ist er unwirksam. Diese Möglichkeit des Widerspruchs einer Partei soll ab 2014 entfallen (Erklärung von Brighton v. 19. u. 20.4.2012 Nr. 25 Buchst. d), Zusammenfassung EuGRZ 2012, 265).

 

Rdn 371

c) Nachdem eine Kammer ihr Urteil gefällt hat, steht den Parteien gem. Art. 43 EMRK das Recht zu, einen Antrag auf Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer zu stellen. Hierin liegt ein wichtiges Element der Sicherung der Qualität und der Einheitlichkeit der Rspr. des Gerichtshofs. Es findet faktisch – gleichsam einem Rechtsmittelverfahren – eine zweistufige Prüfung der Rechtssache statt (Schlette JZ 1999, 224). Die Verweisung wird daher schon im Wortlaut der Zuständigkeitsbestimmung ausdrücklich als Ausnahme bezeichnet (Art. 43 Abs. 1 EMRK). Zudem stellt der erläuternde Bericht zum 11. Protokoll zur EMRK (BT-Drucks 13/858, S. 47, EuGRZ 1994, 328) zutreffend fest, dass die Befassung der Großen Kammer infolge eines Verweisungsantrages auf die wichtigsten Fälle beschränkt bleiben soll.

 

Rdn 372

2. Die Rechtssache muss daher entweder eine schwierige Frage der Auslegung oder Anwendung der Konvention oder der Protokolle dazu aufwerfen oder eine schwerwiegende Frage von allgemeiner Bedeutung betreffen.

 

Rdn 373

Die Erläuterungen zum 11. Protokoll zeigen vier Fallgruppen auf, bei denen eine schwerwiegende Frage der Auslegung oder Anwendung der Konvention geltend gemacht werden kann:

Wenn die Entscheidung eine bedeutsame Frage betrifft, die bislang noch nicht vom Gerichtshof entschieden wurde,
wenn sie für künftige Fälle oder die Entwicklung der Rspr. von Bedeutung ist,
wenn die Entscheidung von früherer Rspr. abweicht,
wenn das Urteil eine erhebliche Änderung des innerstaatlichen Rechts oder der innerstaatlichen Verwaltungspraxis verlangt, auch wenn die Frage selbst nicht schwerwiegend ist.
 

☆ In der Praxis ist darüber hinaus eine überdurchschnittliche Annahme solcher Anträge auf Verweisung zu bemerken, denen kein einstimmig gefälltes Urteil der Kammer vorausgeht. Eine Häufung von abweichenden Meinungen kann daher ebenfalls Indiz für das Bestehen etwaiger Erfolgsaussichten sein.kein einstimmig gefälltes Urteil der Kammer vorausgeht. Eine Häufung von abweichenden Meinungen kann daher ebenfalls Indiz für das Bestehen etwaiger Erfolgsaussichten sein.

 

Rdn 374

Das Vorliegen einer schwerwiegenden Frage von allgemeiner Bedeutung soll dann in Betracht zu ziehen sein, wenn die Entscheidung "höchstpolitische Angelegenheiten" oder "zentrale politische Gegenstände" betrifft. Hierbei handelt es sich um ebenso auslegungsoffene wie unsichere Kriterien. Die Problematik der Sicherungsverwahrung in Deutschland erfüllte diese Voraussetzungen z.B. nicht. Die des Art. 5 Abs. 1 EMRK, wenn bei fortdauernder Untersuchungshaft der Verteidigung keine hinreichende Akteneinsicht gewährt wird, hingegen schon (EGMR [GK], Urt. v. 9.7.2009 – 11364/03 [Mooren/Deutschland] StV 2010, 490 m. Anm. Herrmann StRR 2009, 473).

 

Rdn 375

3.a) Ist die Große Kammer einmal zuständig, so nimmt sie eine erneute eigenständige umfassende Prüfung der gesamten Sach- und Rechtslage vor. Eine Beschränkung des Prüfungsumfangs durch den Beschwerdeführer ist, selbst wenn sich die Parteien diesb...

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