Entscheidungsstichwort (Thema)

Erwerbsminderung bei eingeschränkter Geh- bzw Wegefähigkeit. Zusicherung von Kfz-Hilfe durch den Rentenversicherungsträger. Vermeidung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Auswahlermessen

 

Orientierungssatz

1. Zum Vorliegen voller Erwerbsminderung, wenn der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen ist. Der Arbeitsmarkt gilt als verschlossen, wenn der Weg zur Arbeitsstelle nicht zurückgelegt werden kann. Zur Erwerbsfähigkeit gehört auch das Vermögen, einen Arbeitsplatz aufsuchen zu können (vgl BSG vom 6.6.1986 - 5b RJ 52/85 = SozR 2200 § 1247 Nr 47; BSG vom 26.5.1987 - 4a RJ 21/86 = SozR 2200 § 1247 Nr 50; BSG vom 13.07.1988 - 5/4a RJ 57/87 = SozR 2200 § 1247 Nr 53; BSG vom 21.2.1989 - 5 RJ 61/88 = SozR 2200 § 1247 Nr 56). Hier im Falle einer Versicherten, die nicht in der Lage ist eine Wegstrecke von mehr als 500 Meter viermal täglich zurückzulegen und die weder im Besitz einer Fahrerlaubnis noch im Besitz eines Kraftfahrzeuges ist.

2. Die bloße Zusicherung einer Leistung zur Teilhabe - hier Leistungen zur Erlangung eines Arbeitsplatzes nach der Kraftfahrzeug-Hilfe-Verordnung (KfzHV) - durch den Rentenversicherungsträger in der er sich eine endgültige Entscheidung noch vorbehält, führt nicht zum Wegfall des Rentenanspruchs. Insbesondere ist die bloße Zusicherung nicht geeignet, die praktische Verschlossenheit des Arbeitsmarktes aufgrund der eingeschränkten Wegefähigkeit zu überwinden und die Versicherte bei Vorhandensein eines ihrem Leistungsvermögen angemessenen Arbeitsplatzes wieder ins Erwerbsleben einzugliedern (vgl LSG Chemnitz vom 15.1.2003 - L 6 RJ 232/02).

3. Ein Angebot des Rentenversicherungsträgers nach der KfzHV um die volle Erwerbsminderung zu verhindern, reicht dann nicht aus, wenn lediglich Zuschüsse zur Beschaffung eines PKW oder solche zur Erlangung einer Fahrerlaubnis und für eine behindertengerechte Zusatzausstattung bewilligt werden. Erst durch die Erbringung von Leistungen zur Beschaffung eines PKW und zur Erlangung einer Fahrerlaubnis ist hier die Versicherte in der Lage einen Arbeitsplatz zu erreichen.

4. Ein ausreichendes Angebot über Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, das einen Rentenanspruch verhindert, liegt erst dann vor, wenn der Rentenversicherungsträger ein Auswahlermessen bzgl der der Versicherten konkret zu gewährenden Leistungen zur Erlangung eines Arbeitsplatzes ausgeübt hat. Eine Ablehnung der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben trotz Vorliegens der gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen ist aufgrund von im Rahmen des Ermessens zu berücksichtigender Gesichtspunkte und des Vorbehalts nicht ausgeschlossen (vgl BSG vom 14.12.1994 - 4 RA 42/94 = SozR 3-1200 § 39 Nr 1).

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 21.03.2006; Aktenzeichen B 5 RJ 51/04 R)

 

Tenor

I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 17.03.2004 wird zurückgewiesen.

II. Auf die Anschlussberufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Leipzig geändert. Rente wegen voller Erwerbsminderung ist für den Zeitraum 01.04.2002 bis 31.03.2005 zu bewilligen.

III. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten auch für das Berufungsverfahren zu erstatten.

IV. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Die ... 1953 geborene Klägerin absolvierte nach dem Abschluss der 8. Klasse vom 01.09.1969 bis 31.08.1972 eine Ausbildung zur Köchin und erwarb den Facharbeiterabschluss. Anschließend war sie bis 20.02.1978 im erlernten Beruf tätig. Aus persönlichen Gründen gab sie diesen auf und war vom 01.07.1979 bis 30.06.1992 als Gärtnergehilfin/Erntehelferin und vom 06.10.1993 bis 05.10.1994 als Landschaftsgestalterin im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (ABM) beschäftigt.

Die Klägerin ist weder im Besitz eines Führerscheins noch eines PKW.

Sie stürzte am 21.10.1996 im häuslichen Bereich und zog sich eine komplette Unterschenkelfraktur links zu. Noch am Unfalltag erfolgte die operative Versorgung mittels Verriegelungsnagelung. Seit dem Unfallgeschehen klagt sie über lumbale Ruhe- und Belastungsschmerzen, rezidivierende akute Schmerzattacken mit Missempfindungen und Ausstrahlung in das linke Bein einschließlich Taubheitsgefühl im Unterschenkel und Hitzegefühl im Knie. Abends seien der Unterschenkel links und der Fuß deutlich angeschwollen. Seit dem Unfall hätten sich Atralgien und Bewegungseinschränkungen der linken Hüfte, der Kniegelenke, des linken Sprunggelenks und der Füße mit Fehlstellungen und mit rezidivierenden Schwellungen verstärkt.

Der Klägerin wurde aufgrund der Funktionseinschränkungen des linken Beins mit Bescheid des Amtes für Familie und Soziales Leipzig vom 19.11.2002 ein GdB von 50 anerkannt.

Den am 11.09.2001 gestellten Antrag auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung begründete die Klägerin mit dem Beinbruch.

Im Verwaltungsverfahren lagen der Beklagten vor:

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das für das Arbeitsamt Delitzsch am 21.10.1997 vom Arbeitsmediziner Dr. L erstellte Gutachten, in ...

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