Rn 8

Von einer Bindung des Berufungsgerichts an die Feststellungen des Erstgerichts (Ullenboo ZZP 16, 235) kann nur insoweit gesprochen werden, als eine erneute Feststellung aller Tatsachen in zweiter Instanz nicht in jedem Fall erforderlich ist. Grds legt das Berufungsgericht den Sachverhalt zugrunde, von dem auch das Erstgericht ausgegangen ist. Eine Bindung iS einer Einschränkung der eigenen Entscheidungsbefugnis, wie sie zB die §§ 308, 563 II begründen, enthält § 529 I nicht. Hält das Berufungsgericht den festgestellten Sachverhalt für falsch, steht es ihm frei, die Feststellungen zu wiederholen oder zu ergänzen (Hirtz NJW 14, 1642). Die ›Bindung‹ iSd Rspr und Lit besteht damit lediglich darin, dass eine erneute Tatsachenfeststellung auf Ausnahmefälle beschränkt ist und im Regelfall unterbleibt.

 

Rn 9

Die in diesem Sinne verstandene Bindung gilt insb für Beweise, die weder neu erhoben noch neu gewürdigt werden. Die Bindung besteht an Feststellungen zu Zulässigkeits- und Begründetheitsvoraussetzungen genauso, wie an die Entscheidung nicht tragende Feststellungen (BGH GRUR 15, 768 [BGH 24.02.2015 - X ZR 31/13]). Die Bindung ist vAw zu berücksichtigen, kann durch übereinstimmende Erklärung der Parteien nicht beseitigt werden. Hat das LG unzutreffende Feststellungen getroffen, kann zur Vermeidung der Bindungswirkung eine Tatbestandsberichtigung nach § 320 erforderlich sein (Einsiedler MDR 11, 1454).

 

Rn 10

§ 529 betrifft nur Tatsachen, dh sinnlich wahrnehmbare Zustände oder Vorgänge. Dazu gehören auch innere Tatsachen (Kenntnisse, Absichten, Fähigkeiten). Nicht erfasst werden Wertungen. Keine Bindung besteht damit insb an Rechtsansichten (Ddorf ZEV 18, 464; Hamm VersR 11, 637). Dazu gehört zB das Ergebnis einer Auslegung durch das Erstgericht. Hält das Berufungsgericht die erstinstanzliche Auslegung einer Willenserklärung zwar für vertretbar, aber sachlich nicht für überzeugend, so hat es die Auslegung selbst vorzunehmen (BGH NJW 04, 2751 [BGH 14.07.2004 - VIII ZR 164/03]; Naumbg Urt v 29.3.12 – 1 U 84/11; Dresd MDR 10, 1377; Brandbg NL-BzAR 09, 156). Dies gilt auch für die Auslegung von Prozesshandlungen (LAG Mecklenburg-Vorpommern Urt v 18.7.08 – 3 Sa 80[08]). Keine Bindung besteht auch an die Ausübung eines Ermessens. Hierher gehören die Quotelung der Verursachungsanteile bei einem Verkehrsunfall (Oldbg MDR 11, 1100 [OLG Oldenburg 13.07.2011 - 4 U 16/11]; LG Nürnberg-Fürth NZV 11, 346), die Schätzung (§ 287; Ddorf MDR 15, 454 [OLG Düsseldorf 24.03.2015 - I-1 U 42/14]) und die Bestimmung eines Schmerzensgelds (Jena ZMGR 12, 38). Das Berufungsgericht hat die erstinstanzliche Ermessensausübung auf der Grundlage der nach § 529 maßgeblichen Tatsachen gem §§ 513 I, 546 in vollem Umfang darauf zu überprüfen, ob sie überzeugt. Es darf sich nicht darauf beschränken, die Ermessensausübung der Vorinstanz auf Rechtsfehler zu überprüfen (BGH NJW 06, 1589; Brandbg VersR 05, 953). Auch an die Feststellung tatsächlicher Umstände, die einen Verfahrensmangel begründen, ist das Berufungsgericht nicht gebunden, insoweit erfolgt eine Prüfung vAw (Abs 2). Schließlich besteht keine Bindung an die Beweiswürdigung; soweit das Berufungsgericht dem Erstgericht hier nicht folgen will, kann (und ggf muss: BGH NZG 13, 1436 [BGH 17.09.2013 - XI ZR 394/12]) es die Beweisaufnahme wiederholen (Rn 17).

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