Rn 17

Eine erforderliche Neufeststellung von Tatsachen erfolgt iRd Verhandlung vor dem Berufungsgericht. Die Neufeststellung von Tatsachen kann in einer abweichenden rechtlichen Bewertung des (erst- und zweitinstanzlichen) Parteivortrags bestehen (Rn 5). Das Berufungsgericht kann erstinstanzlichen Tatsachenvortrag abw vom Erstgericht als streitig oder unstr qualifizieren, ein Geständnis für unwirksam oder eine Tatsache für offenkundig halten. Es kann vorgetragene Tatsachen anders verstehen oder Erklärungen anders auslegen. Wichtigster Fall der Neufeststellung ist jedoch die Durchführung einer Beweisaufnahme. Diese kann iRd § 529 I (wenn der Feststellungsfehler in der Unterlassung der Beweisaufnahme bestand) erstmalig erfolgen oder (wenn der Fehler in der Beweisaufnahme oder -würdigung lag) in der Wiederholung einer erstinstanzlich bereits durchgeführten Beweisaufnahme bestehen (BGH VersR 09, 1213; Hirtz/Oberheim/Siebert/Oberheim Kap 16 Rz 229). Soweit letztere im Ermessen des Gerichts steht (§§ 525 S 1, 398 I, 412 I), ist dieses iRd Fehlerbehebung regelmäßig auf Null reduziert. Eine von der erstinstanzlichen abweichende Würdigung des Zeugenbeweises ohne vorherige Wiederholung der Vernehmung ist dem Berufungsgericht regelmäßig verwehrt (BVerfG NJW 17, 3218 [BVerfG 01.08.2017 - 2 BvR 3068/14]; NJW 11, 49 [BVerfG 14.09.2010 - 2 BvR 2638/09]; BGH NJW-RR 16, 175 [BGH 11.06.2015 - I ZR 217/14]; NJW-RR 15, 1200; MDR 12, 601 [BGH 21.03.2012 - XII ZR 18/11]; MDR 11, 1133; NJW 11, 1364), weil in die Beweiswürdigung Umstände eingeflossen sein können, die sich aus der Vernehmungsniederschrift nicht ergeben. Zu einer Wiederholung der Beweisaufnahme ist das Berufungsgericht bereits dann nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet, wenn es sich von der Richtigkeit der erstinstanzlichen Beweiswürdigung nicht zu überzeugen vermag und deswegen an die erstinstanzliche Beweiswürdigung, die es aufgrund konkreter Anhaltspunkte nicht für richtig hält, nicht gebunden ist (BGH FamRZ 20, 527; BauR 10, 1095; KG MDR 11, 158). Eine Wiederholung der Beweisaufnahme vor einer abweichenden eigenen Beurteilung ist deswegen entbehrlich, wenn schon das Erstgericht nur aufgrund der schriftlich vorliegenden Aussage entschieden (BGH NJW 98, 384 [BGH 08.09.1997 - II ZR 55/96]) oder eine Würdigung nur auf Umstände gestützt hat, die weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe des Zeugen noch die Vollständigkeit oder Widerspruchsfreiheit seiner Aussage betreffen (BGH NJW-RR 20, 1519; 17, 1101 [BGH 02.08.2017 - VII ZR 155/15]; NJW-RR 15, 1200). Dasselbe gilt für die Parteianhörung, das Sachverständigengutachten (IBR 20, 565; MDR 20, 1269; FamRZ 20, 527; VersR 19, 506) oder wenn erstinstanzlich eine Beweiswürdigung gar nicht vorgenommen wurde (BGH NJW 94, 1341, 1343). Ist eine Wiederholung der Beweisaufnahme unmöglich, tritt eine Bindungswirkung nicht ein (BGH MDR 16, 1404 [BGH 16.08.2016 - X ZR 96/14]; GRUR-Prax 16, 500; NJW 07, 2919 [BGH 25.04.2007 - VIII ZR 234/06]; München WRP 17, 730 [OLG München 26.01.2017 - 29 U 3841/16]). Vernommen werden müssen grds alle Zeugen zu einem Beweisthema, weil das Berufungsgericht nur so das Gesamtergebnis der Beweisaufnahme unmittelbar würdigen kann (§§ 286 I, 355). Dies kann auch gelten, wenn die erstinstanzliche Beweisaufnahme nicht wiederholt, sondern nur ergänzt werden soll. Allerdings darf die Neufeststellung das nach § 529 I Nr 1 erforderliche Maß nicht übersteigen, sich nicht auf erstinstanzliche Feststellungen erstrecken, bzgl deren keine Zweifel bestehen. Ist ein Sachverständiger erstinstanzlich angehört worden, darf das Berufungsgericht aus seinem Gutachten keine anderen Schlüsse ziehen als das Erstgericht, wenn es den Sachverständigen nicht zuvor selbst anhört (BGH NJW-RR 18, 1173 [BGH 18.07.2018 - VII ZR 30/16]; NJW-RR 11, 704 [BGH 07.12.2010 - VIII ZR 96/10]; MDR 09, 1184).

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