Rn 4

Für die Frage, ob in der Berufungsinstanz entgegen § 398 I eine Pflicht zur erneuten Vernehmung besteht, gelten die Regeln des § 529 (BGH NJW 04, 1876 [BGH 12.03.2004 - V ZR 257/03]). Insbesondere muss das Berufungsgericht, will es die Glaubwürdigkeit eines Zeugen anders würdigen oder den Sinngehalt seiner protokollierten Aussage anders verstehen, würdigen oder werten als die 1. Instanz, den Zeugen erneut persönlich anhören, anderenfalls ein Verstoß gegen Art. 103 I GG (rechtliches Gehör) anzunehmen ist (BGH 25.10.22 – VI ZR 382/21, Rz 9 = MDR 23, 118; NJW 18, 308 Rz 9; WM 18, 1845 Rz 29; NJW-RR 17, 1101, Rz 14). Eine erneute Vernehmung kann allenfalls dann unterbleiben, wenn das Berufungsgericht seine abweichende Würdigung auf solche Umstände stützt, die weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe des Zeugen (also seine Glaubwürdigkeit) noch die Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit (dh die Glaubhaftigkeit) seiner Aussage betreffen (§ 529 Rn 13; st Rsp des BGH seit NJW 91, 3285 [BGH 19.06.1991 - VIII ZR 116/90]; s zB NJW-RR 17, 1101 [BGH 02.08.2017 - VII ZR 155/15], Rz 14; NJW-RR 21, 1074, Rz 8 f; 21, 718, Rz 7; 20, 1519, Rz 6; hieran hat sich durch die ZPO-Reform 2002 nichts geändert, s BGH VersR 11, 817 Rz 6; WM 11, 1533 Rz 7; ebenso BVerfG NJW 11, 49; unvereinbar hiermit BGH 22.4.10 – IX ZR 128/09, Rz 2 betr. ›Ergiebigkeit‹ einer Aussage; zutr dagegen BGH 10.5.11 – VIII ZR 241/10, Rz 9) oder wenn die Vorinstanz von der Würdigung der Aussage und der Glaubhaftigkeit des Zeugen ganz abgesehen hat und wenn der persönliche Eindruck vom Zeugen nicht entscheidungserheblich ist (BGH VersR 22, 527 Rz 9). Eine erneute Partei(!)-Anhörung durch das Berufungsgericht kann dann erforderlich werden, wenn sich das erstinstanzliche Gericht – etwa aufgrund von Zeugenaussagen – von dem Gegenteil dessen überzeugt hat, was eine Partei in einer persönlichen Anhörung erklärt hat, und in den Urteilsgründen von der Würdigung dieser Parteierklärung ganz abgesehen hat (BGH 25.10.22 – VI ZR 382/21, Rz 13 = MDR 23, 118). Der Sachverständige (§ 402) ist vom Berufungsgericht erneut anzuhören, wenn dieses seine Ausführungen anders würdigen will als die Vorinstanz (BGH 19.10.22 – XII ZR 97/21, Rz 42).

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