Rn 9

Die Heilung eines Verstoßes gegen eine verzichtbare Verfahrensvorschrift setzt voraus, dass der Verstoß bei der Gerichtshandlung durch keine Partei oder bei Parteihandlungen nicht durch die andere Partei wenigstens konkludent gerügt wird. Dabei bestehen geringe Anforderungen an eine Rüge; effektiver Rechtsschutz bzw Verfahrensrechte dürfen nicht durch überzogene Rügeanforderungen entwerten oder unangemessen einschränkt werden (BVerfG NVwZ 10, 954, 956 [BVerfG 13.04.2010 - 1 BvR 3515/08]): Die Anmeldung von Widerspruch oder (konkreter) Bedenken genügt (Koblenz OLGR 01, 257, 258). Die betroffene Partei kann weitergehend ausdrücklich (oder schlüssig, aber eindeutig) durch einseitige Prozesshandlung ggü dem Gericht auf die Rüge, dh auf die Geltendmachung des eingetretenen Mangels, nach dem Verstoß (aA St/J/Thole Rz 32) verzichten. Der Verzicht ist unwiderruflich (BGH 16.3.17 – I ZR 205/15, NJW 17, 3304 Rz 42) und unanfechtbar (Zö/Greger Rz 6). Er erfolgt einseitig und bedarf keiner Annahme (St/J/Thole Rz 33; str). Er wird grds in der mündlichen Verhandlung (zulässig ist auch ein Verzicht außerhalb der mündlichen Verhandlung, St/J/Thole Rz 33; aA MüKoZPO/Prütting Rz 35) oder schriftlich im schriftlichen Verfahren nach § 128 II oder auch im Verfahren nach billigem Ermessen (§ 495a) erklärt. Er sollte protokolliert werden (Rn 13).

 

Rn 10

Häufiger ist, dass die betroffene Partei verhandelt (s § 43 Rn 3, § 333 Rn 3 f), ohne den Verstoß wenigstens schlüssig, zB durch einen Antrag auf eine mangelfreie Handlung (s Rn 9), zu rügen. Vorbereitende Schriftsätze dienen nur der Ankündigung des Vortrags in der mündlichen Verhandlung. Prozessual wirksam wird das Vorbringen im Bereich des Mündlichkeitsgrundsatzes erst durch Vortrag in der mündlichen Verhandlung mithin nachdem die Partei sich in der mündlichen Verhandlung darauf bezogen hat (BGH 16.1.14 – XII ZB 377/12 Rz 21f). Daher erfordert ein ›Verhandeln zur Sache‹ regelmäßig, aber nicht in jedem Falle (vgl § 280 I bzgl Zulässigkeitsrügen; § 39 Rn 5), die Stellung eines Sachantrags (Wieczorek/Schütze/Assmann Rz 50). Anderes gilt, wenn die Partei derart am Prozessgeschehen teilnimmt, dass ihr Verhalten auch ohne Antragstellung auf eine bestimmte Entscheidung des Gerichts in der Sache gerichtet ist, zB wenn ein Bekl durch sein Auftreten im Verhandlungstermin und seine Beteiligung am Rechtsstreit für Gericht und Gegenpartei klargestellt hat, dass er sich gegen die beantragte Verurteilung zur Wehr setzen will (BGA NZA 07, 1450, 1452; s.a. BGH NJW 72, 1373, 1374 [BGH 24.05.1972 - IV ZR 65/71]: zur Partei, die Klagabweisung begehrt). Jedenfalls genügt ein rügeloser Sachantrag (§ 297), damit Heilung eintritt. Soweit die Partei nicht im Termin erscheint oder hier nicht verhandelt (§ 333), lässt sie sich nicht (rügelos) ein (Jena FamRZ 03, 1843), dh verliert sie ihr Rügerecht nicht (BAG 18.7.13 – 6 AZR 882/11 Rz 39; St/J/Thole Rz 39). Da eine Annahme durch die andere Partei nicht erforderlich ist, ist eine rügelose Einlassung der erschienenen Partei aber möglich, wenn der Gegner nicht erscheint oder nicht verhandelt (zum Fall des § 342s § 342 Rn 6 f). Spätester Zeitpunkt der Rüge ist der Schluss der nächsten (obligatorischen oder fakultativen) mündlichen Parteiverhandlung nach dem Mangel vor dem erkennenden zuständigen Gericht (Wieczorek/Schütze/Assmann Rz 46). Die Beweisaufnahme ist keine mündliche Verhandlung. Der Verstoß ist also spätestens im anschließenden Termin zur Fortsetzung der mündlichen Verhandlung nach der Beweisaufnahme (vgl § 370) zu rügen. Ausreichend ist, dass dann auf den Inhalt älterer Schriftsätze (zB Klageerwiderung), in der die Mängel gerügt sind, Bezug genommen wird (Karlsr NZG 08, 714, 716 [OLG Karlsruhe 26.03.2008 - 7 U 152/07]); im Zweifel ist mit der vorbehaltlosen Antragstellung in der mündlichen Verhandlung eine solche Bezugnahme auf den Inhalt der vorbereitenden Schriftstücke verbunden (BGH 13.12.12 – III ZR 282/11 Rz 13; BAG 18.7.13 – 6 AZR 882/11 Rz 42). Wird der nächste Termin zur mündlichen Verhandlung willentlich nicht wahrgenommen (s Rn 1), liegt darin nach dem BFH ein Rügeverzicht (BFH 20.10.22 – VI B 33/22 Rz 7, zw). Im zulässiger Weise angeordneten schriftlichen Verfahren (s § 128 Rn 26; BGH 22.3.12 – I ZR 192/10) oder in dem nach billigen Ermessen (§ 495a) hat die Partei ihr erkennbare Mängel im nächsten eingereichten Schriftsatz innerhalb der Schriftsatzfrist nach § 128 II 2 (enger MüKoZPO/Prütting Rz 41: Nichtschreiben innerhalb der Frist nach § 128 II 2 bewirke keinen Rügeverzicht) zu rügen (BGH NJOZ 21, 1228 Rz 29; BAG NZA 22, 879 [BAG 28.04.2022 - 6 AZR 237/21] Rz 12; ThoPu/Seiler Rz 6). Fehlt es an einer Schriftsatzfrist nach § 128 II 2 oder schweigt die Partei, tritt Heilung mit der nächsten Entscheidung des Gerichts ein (BGH NJOZ 21, 1228 Rz 29; Musielak/Voit/Huber Rz 6). Kein Verlust des Rügerechts tritt allein dadurch ein, dass der Berechtigte bei der Entscheidung nach Lage der Akten (§§ 251a, 331a) den Mangel nicht schriftlich rügt...

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