Rn 75

Der Patient trägt zunächst die Beweislast für das Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers, wobei ihm im Einzelfall Beweiserleichterungen in Form des Anscheinsbeweises zugutekommen können (Müller NJW 97, 3049, 3052; s dazu auch oben Rn 42). Erforderlich ist insoweit der Nachweis, dass der Arzt einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf (BGHZ 172, 1, 10 = NJW 07, 2767, 2769; MDR 12, 150; NJW 22, 2747 Rz 13 m abl Anm Mäsch). Ist ein grober Behandlungsfehler unstr oder bewiesen und war der Fehler generell geeignet, den eingetretenen Schaden zu verursachen, hat der BGH lange Zeit ›Beweiserleichterungen bis zur Beweislastumkehr‹ zugebilligt (BGHZ 85, 212, 216 = NJW 83, 333, 334; NJW 97, 796, 797; s.u. Rn 83). In neuerer Zeit hat er dann klargestellt, dass ein grober ärztlicher Behandlungsfehler regelmäßig zu einer Umkehr der objektiven Beweislast führt (BGHZ 159, 48, 53 ff = NJW 04, 2011, 2013; NJW 08, 1381, 1383; MDR 12, 966). Es reicht also nicht aus, dass der Arzt die bloße Möglichkeit der Nichtursächlichkeit seiner fehlerhaften Behandlung nachweist. Vielmehr trägt er die volle Beweislast dafür, dass sein Behandlungsfehler den Gesundheitsschaden beim Patienten nicht herbeigeführt hat. Ein grober ärztlicher Behandlungsfehler kann iÜ auch in einer schweren Verletzung der ärztlichen Dokumentations- und Befunderhebungs- bzw -sicherungspflicht liegen (BGH NJW 04, 1871, 1872 [BGH 23.03.2004 - VI ZR 428/02]; MDR 11, 1286f [BGH 13.09.2011 - VI ZR 144/10]).

 

Rn 76

Nach Einführung des § 630h VI BGB durch das Patientenrechtegesetz vom 20.2.13 (BGBl I 13, 277 ff) gilt die Beweislastumkehr nur noch für die deliktische Haftung des Arztes. Sie greift ferner nur ein im Rahmen der haftungsbegründenden Kausalität, dh bei der Frage, ob der Primärschaden durch den groben Behandlungsfehler verursacht worden ist (BGH NJW 08, 1381, 1382; vgl dazu auch BGH MDR 14, 154f). Eine Ausnahme gilt nur dann, wenn der Sekundärschaden eine typische Folge des Primärschadens ist (BGH NJW 14, 688, 690 Rz 32). Trotz Vorliegens eines groben Behandlungsfehlers kommt es nicht zu einer Umkehr der objektiven Beweislast, wenn der Eintritt des Primärschadens gerade auf Grund des konkreten Fehlers äußerst unwahrscheinlich ist (BGH NJW-RR 10, 833 f; NJW 12, 2653 Rz 6; Köln VersR 10, 117f). Auch die Befunderhebung kann so eindeutig geboten sein, dass ihr Unterlassen einen groben Behandlungsfehler darstellen kann (BGH NJW 11, 3441 [BGH 13.09.2011 - VI ZR 144/10]; BGH MDR 14, 154f [BGH 05.11.2013 - VI ZR 527/12]). Ob ein grober Behandlungsfehler vorliegt, beurteilt sich zwar auf Grund einer juristischen Wertung, die allein der Richter vorzunehmen hat. Gleichwohl ist regelmäßig zum Zwecke der Bewertung des medizinischen Geschehens ein Sachverständigengutachten einzuholen (BGH NJW 08, 1381, 1383 [BGH 12.02.2008 - VI ZR 221/06]; 11, 2508 Rz 9; NJW 22, 2747 Rz 11 m abl Anm Mäsch). Keinesfalls darf das Gericht einen groben Behandlungsfehler entgegen den sachlichen Ausführungen des Sachverständigen bejahen (BGH VersR 09, 1406, 1408 Rz 11). Vielmehr muss die Bewertung eines Behandlungsfehlers als grob in den Ausführungen des Sachverständigen ihre tatsächliche Grundlage finden (BGHZ 144, 296, 304 = NJW 00, 2737, 2739). Trotz der berechtigten Kritik an dieser Rspr (vgl Foerste FS Deutsch 09, 165 ff; Steiner MedR 21, 957 ff; Mäsch NJW 22, 2751 [BGH 24.05.2022 - VI ZR 206/21]; Baumgärtel/Katzenmeier Bd 3 § 823 Anh II Rz 32 ff mwN) müssen die Regeln über die Beweislastumkehr bei groben ärztlichen Behandlungsfehlern inzwischen als Gewohnheitsrecht angesehen werden. Die Regeln über die Beweislastumkehr bei groben ärztlichen Behandlungsfehlern sollen im Übrigen nicht nur in der Humanmedizin, sondern auch in der Tiermedizin gelten (BGH NJW 16, 2502, 2503 Rz 10; Frankf NJW-RR 11, 1246 [OLG Bremen 09.05.2011 - 3 U 19/10]; krit zu Recht Fielenbach JZ 16, 965 [BGH 10.05.2016 - VI ZR 247/15]; Katzenmeier FS Prütting 18, 361, 367 f, weil es nicht um den Schutz des Lebens oder der Gesundheit eines Menschen geht, sondern um dessen Eigentum).

 

Rn 77

Eine echte Umkehr der objektiven Beweislast für die objektive Pflichtwidrigkeit nimmt die Rspr in entsprechender Anwendung des § 280 I 2 BGB ferner dann an, wenn der Arzt oder das Krankenhaus durch den Einsatz medizinisch-technischer Geräte und Materialien Gefahrensituationen schafft, die im technischen Sinne voll beherrschbar sind und nicht den Unwägbarkeiten des menschlichen Körpers unterliegen (BGHZ 171, 358, 361 = NJW 07, 1682, 1683 – Infektion durch Arzthelferin; Zweibr NJW-RR 04, 1607 = OLGR 04, 598 – Infektion während einer Sprunggelenkoperation; KG VersR 06, 1366, 1367 m Anm Jaeger – Sturzbedingte Hirnblutung durch Verwendung eines untauglichen Rollstuhls; Naumb NJW-RR 13, 537 [OLG Naumburg 12.07.2012 - 1 U 43/12] – Sturz eines Patienten; weitere Fälle bei Baumgärtel/Katzenmeier Bd 3 § 823 Anh II Rz 61 ff). In diesen Fällen hat...

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