Entscheidungsstichwort (Thema)

Zur Haftung beim Sturz eines Fahrgastes im Linienbus

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Fahrer eines Linienbusses darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass die Fahrgäste entsprechend ihrer Verpflichtung aus § 14 Abs. 3 Nr. 4 BOKraft selbst dafür sorgen, sich im Fahrzeug stets einen festen Halt zu verschaffen. Dies gilt auch beim Anfahren, es sei denn, die besondere Hilfsbedürftigkeit des Fahrgastes musste sich dem Fahrer aufdrängen.

2. Gibt es keinerlei Anhaltspunkte für eine sonstige Ursache des Sturzes eines Fahrgastes, sind insbesondere auch andere Fahrgäste nicht gestürzt, spricht ein Anscheinsbeweis dafür, dass der Sturz jedenfalls weit überwiegend auf mangelnde Vorsicht des Fahrgastes zurückzuführen ist. Kann dieser Anscheinsbeweis nicht entkräftet werden, tritt die auf Seiten des Betreibers des Linienbusses zu berücksichtigende Betriebsgefahr gänzlich zurück.

 

Normenkette

BGB §§ 278, 280 Abs. 1, § 831; BOKraft § 14 Abs. 3 Nr. 4; StVG §§ 7, 9; SGB X § 116

 

Verfahrensgang

LG Bremen (Urteil vom 11.03.2010; Aktenzeichen 6 O 1814/09)

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des LG Bremen vom 11.3.2010 (6 O 1814/09) abgeändert.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

 

Gründe

I. Die Klägerin macht aus übergegangenem Recht Schadensersatzansprüche gegen die Beklagte geltend.

Die bei der Klägerin krankenversicherte Zeugin H. bestieg am 13.2.2009 in Bremerhaven durch die vordere Tür einen Gelenkbus der Beklagten. Sie ging durch den Bus nach hinten und wollte sich auf den nächsten freien Sitzplatz im Bereich hinter dem Gelenk des Busses setzen, dem sog. Nachläufer, als der Bus anfuhr und die Zeugin stürzte. Dabei zog sie sich eine Fraktur des Außenknöchels zu. In der Folgezeit entstanden von der Klägerin zu tragende Behandlungskosten i.H.v. EUR 4.375,47. Da die ärztliche Behandlung noch nicht abgeschlossen ist, sind weitere Kosten zu erwarten. Andere Fahrgäste, die ebenfalls standen, kamen beim Anfahren des Busses nicht zu Schaden. Zur örtlichen Situation innerhalb des Busses wird auf die in der mündlichen Verhandlung vor dem LG Bremen vom 4.2.2010 überreichten Fotos verwiesen.

Die Klägerin hat behauptet, der Fußboden des Busses sei in dem Bereich, in dem die Zeugin H. ausgerutscht sei, nass gewesen.

Die Klägerin hat die Ansicht vertreten, die Feststellungsklage sei zulässig, da ihr vom Heilungsverlauf nicht mehr bekannt sei als abgerechnete Behandlungspositionen nach Abrechnungsziffern und Diagnosen. Sie müsse sich nicht auf eine auf Freistellung gerichtete Klage verweisen lassen, weil es sich bei einer Freistellung letztlich nur um die Feststellung zur Verpflichtung einer Zahlung handele.

Weiter hat die Klägerin die Auffassung vertreten, die auf sie gem. § 116 SGB X übergegangenen Ansprüche der Klägerin ergäben sich gem. § 7 Abs. 1 StVG aus der Betriebsgefahr des Busses und daneben aus §§ 276, 280 BGB wegen Verletzung einer vertraglichen Schutzpflicht sowie schließlich auch aus § 823 BGB wegen Verletzung von Verkehrssicherungspflichten. Gründe, die es rechtfertigten, ein Mitverschulden der Zeugin anzunehmen, lägen nicht vor.

Die Klägerin hat beantragt,

1. die Beklagte zu verurteilen, an sie EUR 4.375,47 nebst Zinsen i.H.v. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen,

2. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin alle Aufwendungen zu erstatten, die ihr durch die unfallbedingte zukünftige Behandlung ihres Mitglieds H., geboren am [...]1934, entstehen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat behauptet, die Zeugin habe sich, als sie sich hinsetzen wollte, umgedreht, um in Fahrtrichtung zu sitzen, sich dabei aber nicht festgehalten. Dies ergebe sich aus dem von der Zeugin ausgefüllten Fragebogen zum Unfallgeschehen (Anlage B 1). Ferner hat die Beklagte mit Nichtwissen bestritten, dass der Fußboden des Busses nass war bzw. dass dies ggf. in irgendeinem kausalen Zusammenhang mit dem Sturz gestanden habe.

Die Beklagte hat die Ansicht vertreten, die Feststellungsklage sei unzulässig, da die Klägerin einen Auskunftsanspruch gegen die Zeugin H. habe und deshalb in der Lage sei, sich nähere Kenntnisse über die Behandlungskosten zu verschaffen. Zumindest könne sie Klage auf Freistellung von diesen Kosten erheben.

In der Sache selbst hat die Beklagte zudem die Auffassung vertreten, der Zeugin sei ein so erhebliches Mitverschulden anzulasten, dass die Betriebsgefahr dahinter vollständig zurücktrete, denn die Zeugin habe damit rechnen müssen, dass der Bus jeden Moment anfahren könne. Dennoch habe sie sich beim Hinsetzen nicht festgehalten und damit gegen § 14 Abs. 3 Nr. 4 BOKraftV verstoßen.

Das LG hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugin H.. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 4.2.2010 verwiesen.

Mit Urteil vom 11.3.2010 hat das LG der Klage überwiegend stattgegeben. Zur Begründung hat es ausgeführ...

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