Rn 83

Seit Jahrzehnten greift der BGH bei schwierigen Beweislagen auf die Rechtsfigur der ›Beweiserleichterungen bis zur Beweislastumkehr‹ zurück, so etwa bei Verletzung der ärztlichen Dokumentationspflicht (BGH NJW 72, 1520; BGHZ 72, 132 ff = NJW 78, 2337), bei der Nichtbeachtung der Dokumentationspflicht des Versicherungsvermittlers nach §§ 61 I 2, 62 VVG (BGHZ 203, 174, 179 Rz 18 = MDR 15, 30, 31; Hamm NJW 16, 336, 338 Rz 56; Dresd VersR 17, 886, 887) sowie der Dokumentationspflicht einer Ordnungsbehörde (BGH NJW 96, 315, 317 – Einweisung eines Obdachlosen), bei Verletzung der Befundsicherungspflicht im ärztlichen Bereich (BGH NJW 89, 2332 – Unterlassen einer gebotenen Röntgenaufnahme) und iRd Haftung für Produktfehler (BGH NJW 98, 79, 81) sowie allgemein in sämtlichen Fällen der Beweisvereitelung (BGHZ 104, 323, 333 = NJW 88, 2611 mit Anm Reinelt; BGH NJW 02, 825; 04, 222; 06, 434, 436; 08, 982, 985 Rz 23; 09, 360, 362 Rz 19 ff; 11, 778, 780 Rz 31). Darüber hinaus sollen dem Geschädigten Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr auch zugutekommen, wenn dessen Beweislage gerade durch die Amtspflichtverletzung, derentwegen er Schadensersatz begehrt, entscheidend verschlechtert worden ist (BGHZ 211, 171, 183 Rz 32 = VersR 17, 1208 mwN). Lange Zeit hat der BGH auch bei Vorliegen eines groben ärztlichen Behandlungsfehlers dem Patienten Beweiserleichterungen bis zur Beweislastumkehr zugebilligt (BGH NJW 81, 2513 [BGH 16.06.1981 - VI ZR 38/80]; NJW 88, 2303, 2304 [BGH 29.03.1988 - VI ZR 185/87]; NJW 97, 796, 797). Erst im Jahre 2004 hat er dann von dieser Rechtsfigur Abstand genommen und klargestellt, dass ein grober ärztlicher Behandlungsfehler keine bloße Beweiserleichterung, sondern stets eine Umkehr der objektiven Beweislast nach sich zieht (BGHZ 159, 48, 53 ff = NJW 04, 2011, 2013 = BGHReport 04, 1077 mit Anm Laumen; bestätigt von BGH NJW 05, 427 ff [BGH 16.11.2004 - VI ZR 328/03]; anders aber noch Köln MedR 13, 662; KG MedR 17, 388, 391 [KG Berlin 19.05.2016 - 20 U 122/15]).

 

Rn 84

Soweit die ›Beweislastumkehr‹ in dieser Rechtsfigur – wie regelmäßig – als Umkehr der objektiven Beweislast verstanden wird, muss dem entschieden widersprochen werden (zur Kritik vgl ausf Laumen NJW 02, 3739 ff). Es geht nicht an, dem Gericht die Möglichkeit zu eröffnen, im Einzelfall zwischen der Gewährung von Beweiserleichterungen und der Umkehr der objektiven Beweislast zu wählen (ebenso Prütting KF 89, 16; Zö/Greger Vor § 284 Rz 22). Aus dem Rechtsnormcharakter der Beweislastnormen ergibt sich, dass die Verteilung der objektiven Beweislast während des Prozesses nicht verändert werden kann (Rn 59). Ein Ermessen des Tatrichters dahingehend, dass im konkreten Einzelfall zwischen Beweiserleichterungen einerseits und einer Umkehr der objektiven Beweislast gewählt werden kann, widerspricht deshalb nicht nur den Geboten der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit, sondern lässt sich auch mit der Bindung des Richters an das Gesetz nicht vereinbaren. Außerdem werden dadurch in unzulässiger Weise die Bereiche von Beweiswürdigung und Beweislast miteinander vermengt. Beweiserleichterungen bis zur Umkehr der objektiven Beweislast kann und darf es deshalb nicht geben. Möglich und ohne weiteres zulässig sind dagegen ›Beweiserleichterungen bis zur Umkehr der konkreten Beweisführungslast‹ idS, dass der Hauptbeweis als höchstmögliche Form der Beweiserleichterung – etwa auf Grund eines Anscheinsbeweises – als geführt anzusehen ist mit der Folge, dass der Beweisgegner zum Gegenbeweis – und nicht zum Beweis des Gegenteils – gezwungen ist. Das Ermessen des Gerichts bewegt sich dann ausschließlich iRd Beweiswürdigung, so dass die Verteilung der objektiven Beweislast unberührt bleibt.

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