Gesetzestext

 

(1) Dieses Gesetz ist anwendbar in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, in denen

1. ein Schadensersatzanspruch wegen falscher, irreführender oder unterlassener öffentlicher Kapitalmarktinformation,
2. ein Schadensersatzanspruch wegen Verwendung einer falschen oder irreführenden öffentlichen Kapitalmarktinformation oder wegen Unterlassung der gebotenen Aufklärung darüber, dass eine öffentliche Kapitalmarktinformation falsch oder irreführend ist, oder
3. ein Erfüllungsanspruch aus Vertrag, der auf einem Angebot nach dem Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz, einschließlich eines Anspruchs nach § 39 Absatz 3 Satz 3 und 4 des Börsengesetzes, beruht,

geltend gemacht wird.

(2) Öffentliche Kapitalmarktinformationen sind Informationen über Tatsachen, Umstände, Kennzahlen und sonstige Unternehmensdaten, die für eine Vielzahl von Kapitalanlegern bestimmt sind und einen Emittenten von Wertpapieren oder einen Anbieter von sonstigen Vermögensanlagen betreffen. Dies sind insbesondere Angaben in

1. Prospekten nach der Verordnung (EU) 2017/1129 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2017 über den Prospekt, der beim öffentlichen Angebot von Wertpapieren oder bei deren Zulassung zum Handel an einem geregelten Markt zu veröffentlichen ist und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/71/EG (ABl. L 168 vom 30.6.2017, S. 12), Wertpapier-Informationsblättern nach dem Wertpapierprospektgesetz und Informationsblättern nach dem Wertpapierhandelsgesetz,
2. Verkaufsprospekten, Vermögensanlagen-Informationsblättern und wesentlichen Anlegerinformationen nach dem Verkaufsprospektgesetz, dem Vermögensanlagengesetz, dem Investmentgesetz in der bis zum 21. Juli 2013 geltenden Fassung sowie dem Kapitalanlagegesetzbuch,
3. Mitteilungen über Insiderinformationen im Sinne des Artikels 17 der Verordnung (EU) Nr. 596/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 über Marktmissbrauch (Marktmissbrauchsverordnung) und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und der Richtlinien 2003/124/EG, 2003/125/EG und 2004/72/EG der Kommission (ABl. L 173 vom 12.6.2014, S. 1) in der jeweils geltenden Fassung und des § 26 des Wertpapierhandelsgesetzes,
4. Darstellungen, Übersichten, Vorträgen und Auskünften in der Hauptversammlung über die Verhältnisse der Gesellschaft einschließlich ihrer Beziehungen zu verbundenen Unternehmen im Sinne des § 400 Absatz 1 Nummer 1 des Aktiengesetzes,
5. Jahresabschlüssen, Lageberichten, Konzernabschlüssen, Konzernlageberichten sowie Halbjahresfinanzberichten des Emittenten und in
6. Angebotsunterlagen im Sinne des § 11 Absatz 1 Satz 1 des Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetzes.

A. Einführung.

I. Zweck und Geschichte des Gesetzes.

 

Rn 1

Vorgänger der heutigen Gesetzesfassung war das KapMuG von 2005 (Kommentierung S 4. Auflage, Übergangsregelung s § 27 KapMuG), welches vor dem Hintergrund zahlreicher zT bis heute anhängiger Prospekthaftungsklagen gegen die Deutsche Telekom (vgl BGH ZIP 15, 25 sowie BGH ZIP 21, 508) geschaffen wurde. Das Gesetz verfolgt im wesentlichen vier zT gegenläufige Ziele: Verbesserung des Rechtsschutzes für geschädigte Kapitalanleger, Entlastung der Justiz bei Massenverfahren, Durchsetzung des objektiven Kapitalmarktrechts sowie Stärkung des Börsen- und Justizstandorts Deutschland im Vergleich zu alternativen Möglichkeiten der Rechtsdurchsetzung im Ausland (BTDrs 15/5091, 16f).

 

Rn 2

Nach Evaluation und Diskussion (Reformvorschläge zB bei Bergmeister 303 ff; Halfmeier/Rott/Feess 80 ff) wurde das KapMuG 2012 neu gefasst (BTDrs 17/10160) und 2020 ohne inhaltliche Veränderungen nochmals bis Ende 2023 verlängert. Vgl zum fortbestehenden Reformbedarf Rotter VuR 19, 283; Reuschle BKR 20, 605 (mit umfangreicher empirischer Auswertung); Waßmuth/Asmus BKR 21, 15; Stackmann DRiZ 21, 414 und Wambach/Dressel ZIP 21, 1149.

II. Rechtsvergleichende Einordnung.

 

Rn 3

Die internationale Entwicklung der letzten Jahrzehnte ist durch zahlreiche Varianten des kollektiven Rechtsschutzes gekennzeichnet (vgl nur Koch JZ 11, 438). Dabei wird gewöhnlich zwischen opt-out- und opt-in-Sammelklagen unterschieden. Das KapMuG nimmt dagegen eine im Rechtsvergleich auffällige Sonderstellung ein, weil es als Zwangsverfahren ausgestaltet ist. Ihm kann sich der einzelne Kl nicht entziehen, wenn einmal ein Musterverfahren in der ihn betreffenden Angelegenheit durchgeführt wird (§ 8 KapMuG). Will ein Kl am Musterverfahren nicht teilnehmen, so kann er allenfalls seine Klage zurücknehmen und damit ganz auf die Verfolgung seiner Rechte verzichten. Diesem Zwangscharakter korrespondieren umfangreiche Verfahrensrechte für alle Beteiligte, welche ein Massenverfahren nach dem KapMuG in der Praxis schwerfällig machen können (dazu Stackmann NJW 10, 3581 [BGH 23.09.2010 - IX ZR 212/09]). Eine weitere Besonderheit des KapMuG besteht in seinem zweistufigen Charakter als Vorlageverfahren: Die Klägergruppe wird nicht an einem erstinstanzlichen Gericht konzentriert, sondern das Musterverfahren wird zum übergeordneten OLG emporgehoben (§ 6 KapMuG) und wirkt sich dann mit seinen Feststellun...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge