Rdn 3617

 

Literaturhinweise:

Ahmed, Praxisprobleme beim Pflichtverteidiger – Ein Appell an den Gesetzgeber, Richter und Strafverteidiger, StV 2015, 65

Allgayer, Vertretung bei Einlegung sowie Begründung von Rechtsmitteln und Rechtsbehelfen, NStZ 2016, 192

Barton, Verteidigerfehler und deren Korrektur, StraFo 2015, 315

Böhm, Die Beendigung der Pflichtverteidigerbestellung nach der Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, StV 2021, 196

Jahn, Das Zivilrecht der Pflichtverteidigung, JR 1999, 1

Münchhalffen, Rechtliche und tatsächliche Benachteiligungen des Pflichtverteidigers gegenüber dem Wahlverteidiger, StraFo 1997, 230

s.a. die Hinw. bei → Pflichtverteidiger, Allgemeines, Teil P Rdn 3304.

 

Rdn 3618

1.a) Der Pflichtverteidiger ist kein "Verteidiger zweiter Klasse" (BGHSt 47, 68; Böhm StV 2021, 196). Er hat vielmehr die gleichen Rechte und Pflichten wie der Wahlverteidiger. Ebenso wie dieser ist er im EV neben der StA und später im Hauptverfahren neben dem Gericht gleichberechtigtes Organ der Rechtspflege (s. zuletzt BVerfG NJW 1984, 2341 m.w.N.; KK-Willnow, vor § 137 Rn 5 m.w.N.; ­Ahmed StV 2015, 65, 66; → Verteidiger, Begriff, Teil V Rdn 4863). Auch ist der Pflichtverteidiger, ebenso wie der Wahlverteidiger, nicht Vertreter, sondern Beistand des Beschuldigten (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 17.6.2021 – 3 Ws 200/21). Dies ist insbesondere zu berücksichtigen, wenn der Beschuldigte einen Verteidigerwechsel anstrebt; hier reichen bloße Unstimmigkeiten über die Verteidigungsstrategie nicht aus (OLG Frankfurt/Main, Beschl. v. 28.7.2020 – 5–2 StE 1/20–5a – 3/205; → Pflichtverteidiger, Entpflichtung/Verteidigerwechsel, Teil P Rdn 3507). Auch ist der Pflichtverteidiger nicht gehalten, von ihm nach eigenverantwortlicher Einschätzung der Sach- und Rechtslage für aussichtslos oder sachfremd erachtete Anträge und Rechtsbehelfe zu stellen bzw. einzulegen (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 17.6.2021 – 3 Ws 200/21).

 

Rdn 3619

b) Mit der Beiordnung entsteht die öffentlich-rechtliche Pflicht des Verteidigers, bei der (ordnungsgemäßen) Durchführung des Verfahrens – insbesondere in der HV – durch (sachdienliche) Verteidigung des Angeklagten mitzuwirken (vgl. u.a. OLG Frankfurt am Main NStZ-RR 1997, 77; OLG München Rpfleger 1982, 486; eingehend auch OLG Hamburg NJW 1998, 621; Meyer-Goßner/Schmitt, § 142 Rn 59 m.w.N.; → Pflichtverteidiger, Wirkung der Beiordnung, Teil P Rdn 3662; zur Haftung des Pflichtverteidigers bei (Frist-)Versäumnissen s. → Verteidiger, Haftung, Teil V Rdn 4909; s.a. Barton StraFo 2015, 315). Die Bestellung zum Pflichtverteidiger begründet als solche aber keine (zusätzlichen) Berufspflichten, die über die allgemeine Stellung des Verteidigers als "unabhängiges Organ der Rechtspflege" i.S.v. § 1 BRAO hinausgehen (zur Stellung des Pflichtverteidigers krit. Münchhalffen StraFo 1997, 231; s. dazu auch Jahn JR 1999, 3 f., der – entgegen der h.M. – die Pflichtverteidigerstellung als über das Recht der zivilrechtlichen Stellvertretung begründet ansieht; ähnlich LR-Jahn, vor § 137 Rn 67 ff., die ebenfalls Vertrags- oder GoA-Recht anwenden wollen).

 

☆ Der Rechtsanwalt ist zur Übernahme der Pflichtverteidigung verpflichtet . Er kann nur aus wichtigem Grund nach den §§ 48 Abs. 2, 49 Abs. 2 BRAO oder im Sonderfall des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 2 Befreiung verlangen (→ Pflichtverteidiger, Wirkung der Beiordnung , Teil P Rdn  3666 ; → Pflichtverteidiger, Entpflichtung/Verteidigerwechsel, Teil P Rdn  3507 ).Rechtsanwalt ist zur Übernahme der Pflichtverteidigung verpflichtet. Er kann nur aus wichtigem Grund nach den §§ 48 Abs. 2, 49 Abs. 2 BRAO oder im Sonderfall des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 2 Befreiung verlangen (→ Pflichtverteidiger, Wirkung der Beiordnung, Teil P Rdn 3666; → Pflichtverteidiger, Entpflichtung/Verteidigerwechsel, Teil P Rdn 3507).

 

Rdn 3620

c) Als unabhängiges Organ der Rechtspflege unterliegt der Pflichtverteidiger nicht der Kontrolle des Gerichts (BVerfG NJW 1983, 1535; zuletzt BGH StRR 2008, 24, insoweit nicht in NStZ 2008, 231; KG StRR 2013, 402 [Ls.]). Eine Rücknahme der Bestellung kommt daher grundsätzlich nur unter den Voraussetzungen der §§ 143, 143a in Betracht (→ Pflichtverteidiger, Entpflichtung/Verteidigerwechsel, Teil P Rdn 3507). Versäumnisse eines Pflichtverteidigers können dem Staat allerdings nur ausnahmsweise angelastet werden, für Behörden und Gerichte besteht eine Verpflichtung zum Eingreifen nur, wenn das Versagen eines Pflichtverteidigers offenkundig ist oder wenn sie davon unterrichtet werden (BGH, Beschl. v. 11.3.2020 – 4 StR 68/20, StRR 6/2020 [Ls.]: s.a. EGMR NJW 2003, 1229). Der Pflichtverteidiger hat selbstständig die Interessen des Beschuldigten gegenüber den Strafverfolgungsbehörden (und dem Gericht) zu wahren und dafür Sorge zu tragen, dass der Strafanspruch des Staates im prozessordnungsgemäßen, justizförmigen Weg verfolgt wird. Er ist nicht zur Unparteilichkeit verpflichtet, darf also – ggf. muss er – einseitig sein (vgl. KK-Willnow, vor § 137 Rn 3 f. m.w.N.; OLG Hamburg NJW 1998, 621; vgl. aber a...

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