Leitsatz (amtlich)

1. Die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2013 (sog. Dublin-III-Verordnung) ist ab 1.1.2014 in der Bundesrepublik Deutschland unmittelbar geltendes Recht (insoweit gegen Heiß NZFam 2014, 806), das hierfür - anders als die Richtlinien - nicht noch einer Umsetzung durch ein nationales Gesetz bedarf.

2. Art. 6 Abs. 2 der Verordnung, wonach die Mitgliedstaaten dafür sorgen müssen, dass ein unbegleiteter Minderjähriger von einem Vertreter, der über eine entsprechende Qualifikation und Fachkenntnisse verfügt, vertreten wird, "um zu gewährleisten, dass dem Wohl des Minderjährigen während der nach dieser Verordnung durchgeführten Verfahren Rechnung getragen wird" stellt klar, dass der Vertreter selbst über die erforderlichen Fachkenntnisse verfügen muss und nicht ein Vertreter ohne diese Kenntnisse bestellt werden darf, von dessen Entscheidung es abhängen würde, ob er einen geeigneten Vertreter beauftragt (sinngemäß Riegner, NZFam 2014, 150 ff., 153; Heiß NZFam 2014, 806).

3. Ein allgemeiner Rechtssatz, dass die nach neuem europäischen Recht vorgesehene sachkundige Vertretung eines unbegleiteten Jugendlichen "grundsätzlich durch das Jugendamt als Vormund gewährleistet" ist (BGH NJW 2014, 865 obiter dictum Rz. 9; kritisch Heiß NZFam 2014, 806; Riegner NZFam 2014, 150 ff., 153), lässt sich nicht aufstellen, weil insoweit jeweils eine Tatsachenfeststellung zu treffen ist und die notwendige Feststellung einer tatsächlichen Eignung nicht durch die Forderung, das Jugendamt müsse die Fähigkeit haben, ersetzt werden kann.

4. Das Regel-Ausnahme-Verhältnis für die Annahme eines besonderen Grundes i.S.d. § 1775 Satz 2 BGB ist nicht deshalb verletzt, weil gesellschaftlich bedingt statistisch steigende Fallzahlen wegen vermehrter Asylbewerber zu häufigerer Anordnung von Mitvormundschaft führen (entgegen OLG Frankfurt NZFam 2014, 806; Gonzalez Mendez de Vigo JAmt 2014, 170), denn dies ändert nichts daran, dass es in rechtlicher Hinsicht eine Ausnahmefallkonstellation bleibt (Schwamb JAmt 2014, 347; ähnlich Bienwald FamRZ 2013, 1208, 1209).

5. Für die Befürchtung, es könne zwischen Mitvormündern eher zu Kompetenzkonflikten kommen (Gonzalez Mendez de Vigo JAmt 2014, 170 f.), besteht bei einer konkreten Aufteilung der Wirkungskreise gem. § 1797 Abs. 2 BGB regelmäßig kein Anlass (Schwamb JAmt 2014, 347, 348).

 

Tenor

1. Der angefochtene Beschluss wird abgeändert und unter Beibehaltung der erstinstanzlichen Kostenentscheidung wie folgt neu gefasst. Es wird bezüglich des Beteiligten zu 1. das Ruhen der elterlichen Sorge beider Elternteile festgestellt und Vormundschaft angeordnet. Das Jugendamt ... wird zum Amtsvormund mit Ausnahme des Wirkungskreises der asyl- und ausländerrechtlichen Angelegenheiten bestellt. Als Mitvormund für den Wirkungskreis der asyl- und ausländer-rechtlichen Angelegenheiten wird Rechtsanwalt ... bestellt. Dieser übt sein Amt berufsmäßig aus.

2. Gerichtsgebühren für das Beschwerdeverfahren werden nicht erhoben; außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

3. Beschwerdewert: 3.000 EUR

4. Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.

 

Gründe

I. Der am ... 1997 in ... Afghanistan geborene betroffene Jugendliche hat nach seinen Angaben in der richterlichen Anhörung ... vor ca. 8 bis 9 Monaten sein Heimatland verlassen und keinen Kontakt mehr zu seinen Eltern. Die Flucht sei mit einem Schleuser erfolgt. In Frankfurt/M. angekommen, habe er mit seinem ... Cousin Kontakt aufgenommen, der aber selbst Familie habe und sich nicht dauerhaft um ihn kümmern könne. Letzteres wurde von dem Cousin im Anhörungstermin bestätigt; er habe auch selbst noch Sprachschwierigkeiten, weil er erst seit 1 1/2 Jahren hier sei. Gegenüber dem Jugendamt hatte der betroffene Jugendliche zur Begründung seiner Flucht noch angegeben, bei einem Streit um das Land, das seine Eltern in der Heimat bewirtschaften, sei sein älterer Bruder getötet worden. Er selbst sei seit der Geburt schwer sehgeschädigt, könne gerade hell von dunkel unterscheiden, eine Operation habe keine Besserung gebracht. Verwandte hätten ihm nach dem Tod seines Bruders die Flucht ermöglicht. Er wandte sich schließlich am 18.7.2014 an das Jugendamt ..., welches ihn gem. § 42 SGB VIII unter der im Rubrum genannten Anschrift untergebracht und mit Eilantrag vom 18.7.2014 die Feststellung des Ruhens der elterlichen Sorge, die Einsetzung eines Vormundes sowie die Bestellung eines Ergänzungspflegers für die asyl- und ausländerrechtlichen Belange beantragt hat ...

Das AG hat ein Hauptsacheverfahren eingeleitet, den Jugendlichen persönlich angehört und durch Beschluss vom 21.8.2014 das Ruhen der elterlichen Sorge festgestellt sowie das Jugendamt ... zum Amtsvormund bestellt. Dem Antrag, einen Rechtsanwalt als Ergänzungspfleger für die asyl- und ausländerrechtlichen Angelegenheiten zu bestellen, hat es mit der Begründung, der Vormund könne "selbstverständlich alle Angelegenheiten für den Betroffenen erledigen" und auch einen Rechtsanwalt oder e...

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