Entscheidungsstichwort (Thema)

Verzögerungen wegen Abwartens der Reparaturfreigabe des gegnerischen Haftpflichtversicherers

 

Leitsatz (amtlich)

1. Einem Kfz-Haftpflichtversicherer steht kein genereller Anspruch auf eigene Fahrzeugbesichtigung des Unfallgeschädigten zu. Ein solcher ergibt sich nicht aus § 119 Abs. 3 VVG. Etwas anderes kann sich unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles aus dem zwischen dem Geschädigten und dem Haftpflichtversicherer nach § 115 Abs. 1 VVG zustande gekommenen gesetzlichen Schuldverhältnis ergeben. Dem Geschädigten sind in Grenzen Pflichten zur Rücksichtnahme auf den Haftpflichtversicherer bei der Schadenfeststellung auferlegt, aus denen sich ausnahmsweise ein Recht des Haftpflichtversicherers auf eigene Fahrzeugnachbesichtigung ergeben kann (Anschluss an BGH, Urt. v. 11.10.1983 - VI ZR 251/81).

2. Steht dem beklagten Kfz-Haftpflichtversicherer weder generell noch ausnahmsweise im konkreten Fall ein Anspruch gegen den Geschädigten auf Fahrzeugnachbesichtigung zu und hat er zudem nicht einmal eine eigene Besichtigung begehrt, kann ihm nicht umgekehrt eine Obliegenheit zur Erteilung einer vom Geschädigten begehrten Reparaturfreigabe mit der Folge auferlegt werden, dass ihm bis zur Erteilung einer solchen Reparaturfreigabe ein verzögerter Zeitraum bis zum tatsächlichen Reparaturauftrag angelastet wird. Vielmehr hat der Geschädigte etwaige Schäden, die ihm in einem solchen Fall durch Verzögerungen wegen Abwartens der Reparaturfreigabe des gegnerischen Haftpflichtversicherers entstanden sind, selbst zu tragen.

3. Etwas anders kann nur dann gelten, wenn der Haftpflichtversicherer gegenüber dem Geschädigten seinen Wunsch auf Nachbesichtigung kundtut, dem Geschädigten das Einräumen der Nachbesichtigung tatsächlich (noch) möglich und zumutbar ist und er dem Versicherer diese Möglichkeit - ob nun kraft gesetzlichen Schuldverhältnisses verpflichtet oder freiwillig - auch einräumt. Denn erst dann erwächst ein Vertrauenstatbestand für den Geschädigten dahingehend, dass er keine Nachteile dadurch erleiden soll, dass er dem Versicherer die Nachbesichtigung ermöglicht und aus diesem Grund auf dessen Reparaturfreigabe wartet.

 

Normenkette

BGB §§ 249, 254; VVG § 15 Abs. 1, § 119 Abs. 3

 

Verfahrensgang

LG Hannover (Urteil vom 29.04.2021; Aktenzeichen 74 O 47/21)

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das am 29.04.2021 verkündete Urteil des Einzelrichters der 74. Zivilkammer des Landgerichts Hannover - 74 O 47/21 wird zurückgewiesen.

Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

Das angefochtene Urteil des Landgerichts Hannover und dieses Urteil sind vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 8.121,87 EUR festgesetzt.

 

Gründe

(abgekürzt gem. §§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1 S. 1 ZPO)

Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte und begründete Berufung der Klägerin hat in der Sache keinen Erfolg.

I. Der Klägerin steht kein weiterer Anspruch auf Erstattung der geltend gemachten Vorhaltekosten gegen den Beklagten aus §§ 7 Abs. 1 StVG, 6 Abs. 1 AuslPflVersG, 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG zu.

Die Voraussetzungen der genannten haftungsbegründenden Normen liegen vor. Die vollständige Eintrittspflicht des Beklagten dem Grunde nach für das zweite hinter dem klägerischen Fahrzeuggespann fahrende tschechische Sprinterfahrzeug mit dem Kennzeichen ..., welches durch Unaufmerksamkeit des Fahrers auf das vor ihm fahrende Gespann der Firma L. AG auffuhr und dieses auf das klägerische Gespann aufschob, steht zwischen Parteien außer Streit. Streit besteht lediglich noch über den Umfang der Erstattungsfähigkeit der der Klägerin durch den Ausfall ihres Fahrzeuggespanns entstandenen Vorhaltekosten.

Über die vorprozessual geleisteten und erstinstanzlich der Klägerin zugesprochenen Vorhaltekosten hinaus besteht kein weiterer Anspruch der Klägerin. Diese sind nicht nach §§ 249, 251 Abs. 1 BGB erstattungsfähig.

1. Bei gewerblich genutzten Fahrzeugen ist der Schaden regelmäßig entweder durch Bestimmung der auf den schädigungsbedingten Entzug der Nutzungsmöglichkeit des Fahrzeugs zurückzuführenden Minderung des Gewerbeertrages oder über die mit der Ersatzbeschaffung verbundenen Mietkosten zu berechnen. Außerdem können alternativ sog. Vorhaltekosten erstattungsfähig sein (vgl. BGH, Urt. v. 06.12.2018 - VII ZR 285/17 - juris-Rn. 12). Dabei handelt es sich um Kosten, die einem Betrieb dafür entstehen, dass er von vornherein für den Fall eines Fahrzeugausfalls dadurch Vorsorge trifft, dass er eine Reservehaltung vornimmt (Buschbell/Höke-Hamann/Kuhn, Münchener Anwaltshandbuch Straßenverkehrsrecht, 5. Aufl. 2020, Teil D - § 24 Rn. 174). Verfügt der Geschädigte - wie hier - über ein Reservefahrzeug und kann er den wirtschaftlichen Verlust durch Rückgriff auf diese Betriebsreserve auffangen, kann er in der Regel die Vorhaltekosten des Reservefahrzeugs als Schadensersatz ersetzt verlangen (vgl. BGH a. a. O, Rn. 15 m. w. N.; Senat, Urt. v. 10.02.2021 - 14 ...

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