Entscheidungsstichwort (Thema)

Anforderungen an ärztliche Invaliditätsfeststellung gemäß Ziff. 2.1.1.1. AUB (2006); hier: handschriftlicher Zusatz "wahrscheinlich" bei ansonsten vollständig im Sinne einer Invaliditätsfeststellung ausgefülltem Formular des Versicherers; Befunderhebung durch Anamnesegespräch bei Feststellung der Invalidität (neurologischer Dauerschaden)

 

Leitsatz (amtlich)

1. Eine ärztliche Invaliditätsbescheinigung ist der Auslegung zugänglich. Dabei ist im Interesse der "Waffengleichheit" zwischen Versicherungsnehmer und Versicherung auch von Bedeutung, ob ersterer Anlass hat, an der in seinen Händen befindlichen Bescheinigung zu zweifeln.

2. Veranlasst die Gestaltung des Formulars für die ärztliche Invaliditätsfeststellung zu einem einschränkenden Zusatz (hier: "wahrscheinlich"), so erscheint es treuwidrig, wenn die Versicherung sich sodann darauf beruft, es sei nicht eindeutig feststellbar, ob die Einschränkung sich gerade auf die Prognose der Invalidität beziehe.

3. Anamnesegespräche sind nicht von vornherein zur Befunderhebung im Rahmen der Feststellung der Invalidität ungeeignet. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die vom Versicherten geschilderten Beschwerden auch bei eingehender Untersuchung nur bedingt objektiv verifizierbar sind.

 

Normenkette

VGG § 1; AUB 2006 Ziff. 1; AUB 2006 Ziff. 2; AUB 2006 Ziff. 5

 

Verfahrensgang

LG Bremen (Aktenzeichen 6 O 2184/12)

 

Tenor

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger EUR 25.399,50 nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 20.02.2013 sowie EUR 1.199,43 Rechtsanwaltsgebühren für außergerichtliche Tätigkeit nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 20.02.2013 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Beklagte wird weiterhin verurteilt, an den Kläger im Voraus eine monatliche progressive Unfallrente von mindestens EUR 619,50 seit Januar 2013 aus der bei der Beklagten bestehenden privaten Unfallversicherung zu Versicherungsscheinnummer [...]zu zahlen.

Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagten bleibt nachgelassen, die Vollstreckung des Klägers gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des insgesamt vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung seinerseits Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

 

Gründe

I. Der Kläger nimmt die Beklagte auf Leistungen aus einer Unfallversicherung in Anspruch.

Der Kläger unterhielt bei der Beklagten eine Unfallversicherung zu Gunsten seines Sohnes S. als versicherte Person. Für diesen war ab einem unfallbedingten Invaliditätsgrad von (insgesamt) 40 % die Leistung einer monatlichen progressiven, dynamisierten Unfallrente von 619,50 EUR vereinbart. Gemäß 2.1.1.1 der vereinbarten AUB 2006 muss die Invalidität innerhalb von 18 Monaten nach dem Unfall eingetreten sein und innerhalb von 24 Monaten nach dem Unfall von einem Arzt festgestellt, schriftlich dokumentiert und schriftlich geltend gemacht worden sein. Der versicherte Sohn des Klägers verunglückte am 4.8.2009 bei einem Verkehrsunfall und erlitt dabei schwere Verletzungen, die wegen der festgestellten körperlichen Dauerschäden unstreitig zu einer unfallbedingten Invalidität von 20 % führten. Die Parteien streiten vorliegend darüber, ob der Sohn des Klägers wegen eines zusätzlichen neurologischen Dauerschadens insgesamt einen Invaliditätsgrad von 40 % erreicht und hieraus einen Anspruch auf die vereinbarte progressive Unfallrente hat. Der Kläger hat zu dem von ihm behaupteten neurologischen Dauerschaden die ärztliche Bescheinigung des Facharztes für Allgemeinmedizin Thomas Schwade vom 2.8.2011 vorgelegt. Für deren Wortlaut wird auf Anl. K8 (Bl. 29 ff. der Akte) verwiesen.

Der Kläger hat behauptet, sein versicherter Sohn sei infolge des Verkehrsunfalls vom 4.8.2009 insgesamt zu (mindestens) 40 % invalide und habe daher einen Anspruch auf die vereinbarte progressive Unfallrente. Er hat dazu die Auffassung vertreten, durch die Bescheinigung des Allgemeinmediziners Thomas Schwade vom 2.8.2011 sei der unfallbedingte neurologische Dauerschaden rechtzeitig und in ausreichender Weise ärztlich festgestellt worden. Im Übrigen stehe ihm hinsichtlich der geltend gemachten vorgerichtlich entstandenen Rechtsanwaltskosten wegen der schwierigen Materie eine 1,8 Geschäftsgebühr zu.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger eine rückständige Unfallrente i.H.v. 25.399,50 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit für die Zeit von August 2009 bis einschließlich Dezember 2012 aus der bei der Beklagten bestehenden privaten Unfallversicherung zu Versicherungsschein Nr. [...] zu zahlen sowie 1.647,44 EUR Rechtsanwaltsgebühren für die außergerichtliche Tätigkeit nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen;

die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger im Voraus eine monatliche progressive Unfallrente von...

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